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Prinzip kahler Riese

Stürmer Carsten Jancker ist der überraschende Ersatz für Kapitän Bierhoff.Heute soll er den EM-Verbleib der deutschen Fußballer erzwingen

So weit also ist es gekommen: Die größte – und nicht zuletzt letzte – Hoffnung des deutschen Fußballs ist eine Glatze. Ein hoch aufgeschossener Eheringküsser aus München, ein „kahler Riese“, wie ihn englische Medien eher spöttisch als ehrfürchtig titulieren. Kurzum: Carsten Jancker vom deutschen Meister Bayern soll heute die nötigen Tore gegen England schießen und das frühzeitige Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM verhindern.

Der Ratschluss von Erich Ribbeck, ausgerechnet Jancker für den verletzten Kapitän Oliver Bierhoff zu nominieren und den wendigen Brasilianer Paulo Rink auf die Reservebank zu verbannen, zog sofort nachhaltige Stoßseufzer der meisten amtierenden EM-Experten nach sich. Gerade gegen die Engländer könne man mit der Brechstange nichts erreichen, hatte Günter Netzer schon vorher gesagt, und selbst Franz Beckenbauer hält den 1,93 Meter großen Mecklenburger für den falschen Mann. Der Bayern-Präsident habe auch gesagt, dass Leverkusen Meister werde, verteidigt sich Jancker mit filigraner Rhetorik gegen das kaiserliche Verdikt.

Wenig beeindruckt zeigt sich der Gegner. „Vor dem haben wir keine Angst“, höhnen englische Journalisten. Eine Geringschätzung, wie sie Jancker in seiner Karriere des Öfteren zuteil wurde. Beim 1. FC Köln schickten sie ihn einst weg nach Wien, wo er Rapid ins europäische Cupsieger-Finale schoss und seine Frau kennen lernte, der zuliebe er nun nach jedem Torerfolg seinen Ring abschmatzt. Bei den Bayern traute ihm niemand zu, dass er Leute wie Rizzitelli oder Ali Daei verdrängen könnte. Doch Jancker setzte sich durch, vor allem, weil er spielerisch längst nicht so schlecht ist, wie er aussieht. Was im Übrigen auch für seinen blanken Schädel zutrifft. Als ihn rechtsradikale Gruppen als ihren „Führer“ feierten, beeilte er sich, kundzutun: „Ich habe mit diesen Leuten nichts am Hut.“

Zuletzt fiel er vor allem durch seine ungelenken Doppelpässe mit Maradona und ein paar nette Testspieltore auf. Dennoch dokumentiert Janckers Nominierung für das England-Spiel vor allem den Grad der Verweiflung, die Erich Ribbeck mittlerweile erfasst hat. Wie 1998 bei Berti Vogts regiert nur noch das Prinzip Hoffnung. Hoffnung, dass hinten ein malader Matthäus irgendwie im Weg herumsteht, wenn Beckham und Co. das deutsche Tor belagern; Hoffnung, dass vorn ein verirrter Ball irgendwie einen Schädel der doppelten Brachialspitze Jancker/Kirsten erreicht. Vieles spricht indes dafür, dass der Ehering heute trocken bleibt.

MATTI LIESKE

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