Wenn das der Führer wüsste

Hakenkreuze im Keller, Adolf-Videos am Kiosk: Und das soll alles vorbei sein? „Schweigen und die Hand aufhalten“ als Devise der Geschäftsinhaber

von PHILIPP MAUSSHARDT

Vor der Absperrung der Baustelle steht schon am frühen Vormittag ein grau melierter Herr, hält etwas zittrig seine alte Leika ans Auge und schimpft: „So eine Sauerei.“ Er bleibt nicht lange allein. Jedem Omnibus, der an diesem Tag das steile Sträßchen von Berchtesgaden hinauf zum Obersalzberg fährt, entsteigen entsetzte Touristen und sie zielen mit ihren Fotoapparaten und Videokameras auf eine Ruinenlandschaft vor großartiger Bergkulisse.

Schimpfen unter Baulärm

Unbeeindruckt von den auf sie gerichteten Augen setzen die Baggerführer ihre Arbeit fort: Bald fällt die letzte Mauer des „Platterhofes“, des einzigen übrig gebliebenen großen Gebäudes aus der Zeit, als der Obersalzberg zum „Führersperrgebiet“ erklärt worden war. Die Schimpfkanonade geht im Baulärm unter: „Gerade wenn man kritisch mit der eigenen Geschichte umgeht, darf man das doch nicht abreißen“, sagt ein Zaungast zum anderen. „Kulturlos“, schimpft der, „unglaublich“, der nächste.

Der Ärger mit dem Nazi-Erbe vom Obersalzberg begann erst, als die US-Armee vor fünf Jahren den Berg verließ. Seither ist der Freistaat Bayern im Besitz des Platterhofes – und er ist nicht glücklich darüber. Man hatte in München den begründeten Verdacht, ein großer Teil jener 300.000 Touristen, die im Jahr den Berg besuchen, habe anderes im Sinn als das Bedürfnis nach freier Sicht und frischer Luft.

Der Obersalzberg, ein Wallfahrtsort der Ewiggestrigen? Häufig muss der Besitzer des Hotels „Zum Türken“, von dessen Keller aus man einen Teil der ehemaligen Bunkeranlage besichtigen kann, die Wände wieder weißeln: „Heil Hitler“ steht oft dort und: „Wir kommen wieder!“

In Ermangelung der wirklich Verantwortlichen beschimpfen die empörten Obersalzberg-Touristen in diesen Tagen die Kassiererin im nahe gelegenen „Dokumentationszentrum“. „Was ich da alles zu hören bekomme!“, stöhnt sie. Im Innern des auf den Trümmern des ehemaligen NS-Gästehauses aufgebauten Zentrums steht der Obersalzberg als Modell. Wer auf das Knöpfchen „Platterhof“ drückt, bringt ein Holzhäuschen zum Leuchten. Dass es das im Oktober vergangenen Jahres eröffnete Dokumentationszentrum überhaupt gibt, ist nicht zuletzt das Verdienst einer Bürgerinitiative aus Berchtesgaden. Sie hat jahrelang dafür gekämpft, den Nazi-Berg nicht kampflos den Wallfahrern zu überlassen.

Der Platterhof wird Busparkplatz

Den Antrag der Grünen im bayerischen Landtag, den Platterhof zu einer internationalen Jugendbegegnungsstätte auszubauen, war von der CSU-Mehrheit abgelehnt worden. Mit dem Dokumentationszentrums sei der Gedenkpflicht Genüge getan. Der Platterhof, so beschloss die bayerische Staatsregierung, soll einem neuen Busparkplatz weichen. Und auf dem Grund von Görings ehemaliger Villa wird ein Luxushotel entstehen. Fünf Sterne statt ein Hakenkreuz.

Ein Buchenwald wächst heute an jenem steilen Nordosthang, von dem aus man zwischen Ästen hindurch hinübersieht zur Kneifelsspitze und zum felsgrauen Massiv des Untersbergs. Der Blick auf die Bergwelt des Berchtesgadener Landes war schon einmal unverstellter. Auf Knopfdruck konnte Adolf Hitler das Panorama-Fenster im Salon seines „Berghofes“ im Boden versenken, der hier einmal gestanden hat. Dann fühlte sich der „Volksführer“ der Idylle hier oben auf dem Obersalzberg noch näher – weit genug entfernt von den Schlacht- und Mordplätzen Europas. Reste eines Fundaments und verrosteter Armierstahl ragen aus der schwarzen Walderde: letzter sichtbarer Rest aus „herrlicheren“ Tagen. „Ich habe mich in diese Landschaft verliebt“, sagte Hitler einmal. „Hier habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht.“ Und „hier sind meine großen Pläne entstanden.“

Tatsächlich war der Obersalzberg nach Berlin zur zweiten Schaltzentrale der Nazi-Diktatur geworden. Drunten im Tal stand eine eigene „Reichskanzlei“ mit direkter Telefonverbindung nach Berlin, und droben auf dem Berg residierten an manchen Tagen mehr Nazi-Größen als in der eigentlichen Hauptstadt. In nur wenigen Jahren war aus dem einmal beschaulichen Erholungsort das „Führersperrgebiet“ geworden, mit streng bewachten Protz-Villen der Nazi-Machthaber, Bunkeranlagen, SS-Kasernen und Empfangsgebäuden für ausländische Staatsgäste – „gekrönt“ vom Kehlsteinhaus auf dem gleichnamigen Berggipfel: Nationalsozialistischer Größenwahn in Stein gehauen.

Am 27. April 1945, elf Tage vor Kriegsende, luden 373 englische Flugzeuge 1.232 Tonnen Bomben über dem Obersalzberg ab. Übrig blieb neben kleineren Gebäuden nur der „Platterhof“ – ein Prunkhotel, in dem sich vorwiegend SS-Offiziere wohl fühlten, in dem aber auch Hitlers Geliebte, Eva Braun, längere Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt gehalten wurde. Verlogen hatte man beim Bau den gläubigen Untertanen das Luxushaus als „Volkshotel“ angekündigt, in dem einfache Menschen ihrem Führer für eine Mark pro Nacht einmal ganz nahe sein durften.

Die Frage, was nach dem Krieg mit den Überresten geschehen sollte, beantwortete die US-Armee auf ihre Weise: Sie sprengte die Ruinen in die Luft und funktionierte den Platterhof in ein Erholungsheim für Armeeangehörige („Hotel General Walker“) um, mit angeschlossenem Golfplatz und Skilift.

Kurt Smetana, braun gebrannt von der Gartenarbeit, sitzt an seinem Wohnzimmertisch in Berchtesgaden, von dessen Fenster er den Obersalzberg im Blick hat. Sechs Jahre lang hat der 52-jährige Architekt in der Bürgerinitiative mitgearbeitet, „damit dort oben etwas Vernünftiges entsteht“. Jetzt, mit dem vollzogenen Abriss, ist ihm „die Lust vergangen“. Abendelang hatte er mit anderen diskutiert, „wie man mit dieser Geschichte umgehen kann“, hat Bürgerversammlungen organisiert und viele Briefe nach München geschickt. Hat Denkmalexperten eingeladen und selbst Vorschläge gemacht, wie man den Platterhof nutzen könnte. „Interessiert hat das in der Staatsregierung niemanden. Die haben uns nicht einmal angehört.“

Videos über den Menschen Hitler

Doch mindestens so zermürbt wie die Arroganz in München hat Kurt Smetana „die Feigheit“ in Berchtesgaden. „Geld wollen sie verdienen mit den Touristen, aber ja nicht über die Vergangenheit reden“, sagt er. Als wisse man nicht, warum so viele Ausflügler auf den Obersalzberg kämen. Von vielen Bergen der Umgebung hat man eine ebenso gute Sicht. „Schweigen“, sagt Smetana, „und die Hand aufhalten.“ Man hat ihn angefeindet, als er begann, öffentlich über ein Problem zu sprechen, das keines sein durfte. An den Kiosken handelte man einträglich mit Broschüren und Video-Kassetten, die „den Menschen Hitler“ zeigten: Wie er Rehe streichelt im Wald. Wie er Kinder streichelt. Wie er sich um die Bauarbeiten auf dem Obersalzberg kümmert. Persönlich.

Eine Frau ist da ehrlicher: Pamela Körner betreibt seit Oktober 1999 in der Hauptstraße von Berchtesgaden einen als Antiquitätenladen getarnten NS-Devotionalienhandel mit dem Namen „Carinhall“ – so hieß Görings Landsitz bei Berlin. Im Schaufenster steht die Bleistiftzeichnung eines Brunnens – gezeichnet vom Anstreicher Adolf Hitler. Silbernes Essbesteck von Martin Bormann, ein alter Lederkoffer von Eva Braun – „alles echt“, sagt Frau Körner. Vieles stamme noch von Bürgern aus Berchtesgaden, die in den Ruinen oben auf dem Obersalzberg nach Kriegsende fleißig plünderten.

Haupthaare des Führers

Zur Zeit hat die junge, blonde und stets um ein freundliches Lächeln bemühte Frau Körner etwas ganz besonderes anzubieten: Zehn einzelne Haupthaare des Führers. Der Leibfrisör von Adolf Hitler soll sie angeblich „durch Befeuchten der Schuhsohle“ heimlich an sich gebracht haben. Das Haar kostet heute 2.000 Mark (pro Stück). Ein US-Amerikaner soll schon gekauft haben, um, so ein zufälliger Zeuge des Verkaufsgesprächs, „die Grundlage für einen Klonversuch“ zu erhalten.

Als Pamela Körner in Berchtesgaden auftauchte, war es den Einheimischen aber auch wieder nicht recht: So viel Direktheit musste nun auch nicht sein. Ihre Ladennachbarn sind über „Carinhall“ alles andere als glücklich. „Man gießt doch die braune Tunke nur wieder über uns alle aus“, schimpft die Besitzerin eines Uhrenhandels. Zweimal schon schickte man Polizei zu Pamela Körner. Die überprüfte, ob auch alle Hakenkreuze sauber überklebt waren.

Die Münchner Abriss-Firma, die oben auf dem Berg mit aller Maschinenkraft gegen die massive Bauweise des Platterhofes kämpft, hat sicherheitshalber auch nachts einen Wachdienst eingerichtet, um Andenkenjäger abzuhalten, in den Trümmern noch nach mitnahmefähigen Resten des „Tausendjährigen Reiches“ zu suchen.

Wohin nun mit Hakenkreuzen und Hitler-Fanpost? Denn eines ist sicher: In wenigen Tagen wird vom Platterhof nur noch eine platte Fläche übrig sein.

Wenn das der Führer wüsste!

Doch wer hätte das gedacht: Hitler wäre wohl zufrieden, zumindest im Prinzip. Nach seinem Tode, so wünschte er sich am Vorabend seines 54. Geburtstages, solle am Obersalzberg alles „als großartiger Scheiterhaufen“ in Flammen aufgehen.