Exkursion in die Knochenmühle

Mittelalterliche Bedingungen prägen die Minenarbeit im bolivianischen Potosí, und trotzdem pflegt der Minero seinen männlichen Ehrenkodex. Beispielsweise im abergläubischen Pakt mit einem Onkel der Unterwelt. Kein Zutritt für Frauen

von ULI WEIDENBACH

Die Decke hängt tief. In gekrümmter Gangart führt Juan Mamani Choque unsere Besuchergruppe durch die engen, stickigen Schächte der Candelaria-Mine. „Der Unfall vor drei Jahren ist ein Glücksfall für mich gewesen“, sagt er. Zwei Jahre lang hat der 30-Jährige hier gearbeitet, bis er mehrere Meter tief auf den Rücken fiel. Unter einem zentnerschweren Sack mit Erdmasse hatte er auf dem schlammigen Boden das Gleichgewicht verloren. „Die Schmerzen werden mich mein Leben lang begleiten. Aber besser, als nach 10 Jahren Arbeit in der Mine an Vergiftungen zu sterben!“

Die hellen Arsenablagerungen funkeln bedrohlich von den Wänden. Die Lunge von Juans Vater ist zu 85 Prozent von Silikose, der gefährlichen Staubkrankheit, befallen. Selbstverständlich war der auch Minero: Minenarbeiter. Wie die meisten in Potosí. Juan hat mit der Familientradition gebrochen. „Meine Kinder sollen eine gute Ausbildung bekommen und studieren. Dies hier will ich ihnen unbedingt ersparen.“ Seine Kopfbewegung deutet auf den Knaben, der mit leerem Blick einen vollen Waggon vor sich herschiebt. Gonzalo ist dreizehn und arbeitet in der Gruppe seines Vaters. „Müsste der nicht eigentlich in der Schule sein?“, fragt jemand aus dem Halbdunkel. Der mitleidige Blick unseres schmächtigen bolivianischen Führers reicht als Antwort aus. Für die rund eintausend Kinder zwischen acht und sechzehn Jahren in den Minen am Cerro Rico – dem „reichen Hügel“ – stellt sich diese Frage nicht. Der harte Überlebenskampf ihrer Familien lässt keinen Raum für den Luxus „Schule“.

Das legale Eintrittsalter für die Minenarbeit beträgt zwölf Jahre – es wird oft noch unterschritten. Eine Exkursion in vorindustrielle Zeiten. An den verheerenden Arbeitsbedingungen hat sich in über 450 Jahren seit der Entdeckung der ersten Silberader hier im bolivianischen Hochland kaum etwas geändert. Die spanischen Kolonialherren förderten damals so viele Edelmetalle zutage, dass Potosí bis Ende des 18. Jahrhunderts zu einer der reichsten und größten Städte der westlichen Hemisphäre emporstieg. Heute ist sie nur noch die höchstgelegene Stadt der Erde auf knapp 4.100 Metern.

Einzig die imposanten Kolonialbauten lassen erahnen, welch unglaublicher Reichtum, welches Angebot an Kultur in dieser harschen Gegend einmal geherrscht haben muss. Im 20. Jahrhundert erlebten die Minen einen einschneidenden Wandel. Die deutlich weniger Gewinn bringende Extraktion von Zinn löste den profitablen Silberabbau wegen zunehmend versiegender Adern ab. Nach dem Aufstand der Arbeiter gegen die Ausbeutung durch internationale Gesellschaften 1952 wurden die Minen verstaatlicht. Seit Beginn der 90er-Jahre sind die Staatsunternehmen teilweise wieder privatisiert, vor allem jedoch in Genossenschaften – so genannten Cooperativas – organisiert. 27 der insgesamt 44 Minen am Cerro Rico, der über der Stadt thront, sind im Besitz der Mineros. Vorteile dieser Kooperativen existieren nur vordergründig.

Die Arbeitsgemeinschaften sind in kleine Gruppen unterteilt und erwirtschaften einen monatlichen Durchschnittslohn von etwa 1.500 Bolivianos (500 Mark) pro Kopf, der um 50 Prozent höher liegt als bei privaten Minen. Um das Geschäft profitabel zu machen, wird jedoch an Mitteln für Vorsorgeleistungen und schonendere Arbeitsbedingungen gespart. Reine Handarbeit. Ohne Strom für Seilwinden, elektrisches Licht und Ventilation und ohne umfassende Gesundheitsvorsorge zerbricht oft nach durchschnittlich zehnjährigem Arbeitseinsatz der Traum vom großen Geld an fortwährenden Arztkosten.

Aus dem schwarzen Eingangsloch der Mina Candelaria quellen Schienen und Gummischläuche. Durch diese pumpen benzinbetriebene Kompressoren Luft in die pneumatischen Geräte. Auch in dieser Mine gibt es keine Elektrizität. Mit unseren batteriebetriebenen Stirnlampen am Sicherheitshelm verschwinden wir im Labyrinth. Gewarnt durch ein gellendes „Cuidado!“ (Achtung!) pressen wir unsere Körper gegen die feuchtkalten Lehmwände, bis die bedrohlich wirkenden Karren an uns vorbeigedonnert sind. Der Tunnel bebt. Unbehagen. Allmählich dringen wir tiefer in die Mine ein. Es wird kühler, im diffusen Lichtkegel ist unser Atem zu sehen. Durch einen steilen, engen Schacht zwängen wir uns hinab in die zweite Ebene, dann in die dritte – nur nicht stecken bleiben. Beklemmung. Der Abstieg auf dem seifigen Untergrund stellt höchste Anforderungen an das Balancegefühl der tapsigen Besucher. Uns kommen trittsichere Mineros entgegen. In Gummistiefeln hinauf zur höchsten Ebene – bis zu sechzigmal am Tag, acht Stunden lang, an sechs Wochentagen. Schichtbetriebene Knochenmühle.

300 Menschen arbeiten in diesen Gängen, in denen uns ein strenger Geruch von ätzenden Gasen entgegenschlägt. Am gesamten Berg sind es 7.000. Stolz und Traditionsbewusstsein prägt die Einstellung der Minenarbeiter zu ihrer Schufterei. Juan kennt fast jeden Einzelnen von ihnen. „Einige verachten mich, weil ich ihren Ehrenkodex gebrochen und meine Männlichkeit für den schlechter bezahlten Job des Touristenführers aufgegeben habe.“ Einmal Minero, immer Minero.

Die vierte Ebene. Fehlende Frischluft, brodelnde 45 Grad Celsius, hohe Luftfeuchtigkeit 4.200 Meter über dem Meer. Atemnot. Im tiefsten Untergrund wird unerbittlich gearbeitet: sprengen, graben, aussortieren von Zinn, Silber und Blei, fortschaffen der unwirtschaftlichen Erd- und Steinmasse. Die belegte Zunge schmeckt den schwefelhaltigen Pulverstaub – dazu Sulfate, Asbest, Arsen. Der Schweiß rinnt nicht nur den schuftenden Männern in Strömen über die zähen Gesichtszüge. Freudestrahlend werden unsere Gastgeschenke angenommen: Wasser und frische Kokablätter. Diese werden den ganzen Tag gekaut, um Hunger, Durst und Müdigkeit zu bekämpfen: Betäubung der Sinne, um die Plackerei ertragen zu können. „Und wo ist der Aguardiente? Juan, hast du ihnen denn nicht gesagt, dass heute ein ganz besonderer Tag ist?“

Freitag Nachmittag, vier Uhr. Ausklang der Arbeitswoche mit 96-prozentigem (!) Alkohol, dem Aguardiente. Opferfeier für Onkel Jorge, „El Tio“, den diabolischen Herrscher der Unterwelt. Eine Tradition, die fest im tief katholisch geprägten Glauben der Bolivianer etabliert ist. Da Gott im Himmel herrscht, muss unter der Erde der Teufel regieren. Die unterirdische Mine kommt den Vorstellungen von der Hölle schon sehr nahe. Um seinen Schutz und sein Wohlwollen zu beschwören, feiern die Minenarbeiter heute – wie jeden Freitag. Sie stopfen der luziferähnlichen Figur von Onkel Jorge aus Lehm und Stein brennende Zigaretten in den Mund, verteilen Kokablätter und träufeln ein paar Tropfen des höchstprozentigen Schnapses auf den Boden.

Im Dämmerlicht erzählt Juan ehrfurchtsvoll von einem mysteriösen Pakt mit „El Tio“. Ein Minero habe sich vor einigen Jahren verpflichtet, jeden Monat einen Kinderfötus als Opfer darzubringen. Nach jahrelangem Reichtum sei dieser heute so arm wie eine Kirchenmaus, weil er nachlässig geworden sei und einmal das Kinderopfer vergessen habe. Die Ehefrauen der Arbeiter haben keinen Zutritt zur Mine, da Pachamama (Mutter Erde) eifersüchtig werden könnte. Welch eine Gnade für die Frauen.