: Reformen in der Warteschleife
Politiker, die in der Türkei für eine Demokratisierung eintreten, werden systematisch ausgebootet. Der Chef der Kommission für Menschenrechte musste jetzt abtreten
ISTANBUL taz ■ Nicht nur EU-Kommissar Günther Verheugen ist enttäuscht, auch EU-Diplomaten in Ankara sind frustiert. „Seit der Entscheidung für den türkischen EU-Kandidatenstatus in Helsinki im vergangenen Dezember ist hier fast nichts passiert“, klagt ein Mitglied des diplomatischen Corps, nachdem bereits der für die EU-Erweiterung zuständige Verheugen angemerkt hatte, dass die Türkei ihrem Zeitplan weit hinterherhinke. Punkten in Europa tut derzeit lediglich die türkische Fußballnationalmannschaft.
Nachdem die türkische Regierung im letzten Sommer im Eiltempo etliche Reformgesetze durchs Parlament gebracht hatte, war ab Dezember plötzlich Schluss. Vor allem auf dem Gebiet der Menschenrechte und Demokratisierung blieb es bislang bei Absichtserklärungen.
Und nicht nur das. Politiker und Bürokraten, die tatsächlich etwas tun wollen, finden sich leicht im Abseits wieder. So musste Ende vergangener Woche Gürsel Demirok, einer der engagiertesten Reformer im Apparat, seinen Hut nehmen. Demirok war Vorsitzender einer vom Ministerpräsidenten eingesetzten Hohen Kommission für Menschenrechte, die im Auftrag des Regierungschefs systematisch untersuchen sollte, was im türkischen Rechtssystem verändert werden muss, damit das Land den Kopenhagener Kriterien entspricht.
Vor einigen Wochen legten Demirok und seine Mannschaft einen umfassenden Katalog vor, der offensichtlich nicht überall auf Begeisterung stieß. Vor allem der Vorschlag, den mächtigen Nationalen Sicherheitsrat, über den die Militärs seit dem Putsch 1980 alle wesentlichen politischen Entscheidungen beeinflussen, in seiner Zusammensetzung so zu verändern, dass Zivilisten die Mehrheit haben, ging offenbar zu weit. Demirok, ursprünglich ein Beamter des Außenministeriums, wird demnächst wieder seinen Dienst als Konsul in der Schweiz ableisten.
Auch Sema Piskinsüt wartet bislang auf ihren großen Auftritt. Die Abgeordnete der Regierungspartei von Ecevit (DSP) ist Vorsitzende einer Parlamentskommission, die Menschenrechtsverstöße untersucht. In mehr als zwei Jahren intensiver Recherchen stellte die Kommission eine umfangreiche Dokumentation über Folter in Polizeistationen zusammen. Erstmals in der Geschichte der Republik wurde ein solches Werk zur gedruckten Vorlage für alle Parlamentsabgeordneten, doch auf die Debatte im Hohen Haus wartet Frau Piskinsüt bislang vergeblich.
Der frühere, sehr engagierte Minister für Menschenrechte, Irtemcelik, trat vor zwei Monaten zurück, seitdem verwaltet der Minister für Staatsmonopole die Menschrechte mit. Der beschied Frau Piskinsüt bei der Vorlage der Untersuchung lapidar: Der Bericht sei zwar erschütternd, aber Folter sei durchaus keine Staatspolitik und werde ja bereits per Gesetz geahndet.
Tatsächlich zeigt die Parlamentskommission detalliert auf, dass die Staatsanwaltschaften Foltervorwürfen fast nie nachgehen und in Fällen, in denen es doch zu einem Prozess gegen Polizisten kommt, diese bis auf ganz seltene Ausnahmen freigesprochen werden. Selbst als CNN-Türk ein Amateurvideo über einen prügelnden Polizisten ausstrahlte, der für seine Brutalität bereits bekannt ist, blieb dieser im Amt.
Die Karriereknicke der mit der Verbesserung der Situation der Menschenrechte befassten Politiker zeigen, mit welch enormen Widerständen im Apparat Reformer rechnen müssen. Selbst Ministerpräsident Ecevit droht dabei auf der Strecke zu bleiben. Nachdem er jüngst auf einer großen Veranstaltung seiner Partei im überwiegend kurdisch bewohnten Diyarbakir noch einmal mit großer Emphase ankündigte, die Regierung werde die Todesstrafe (eines der größten Hindernisse der Türkei auf dem Weg in die EU) demnächst abschaffen, teilte ein Sprecher seines ultranationalistischen, rechten Koalitionspartners MHP am nächsten Tag im Fernsehen mit: Die Türkei hat wichtigere Probleme als die Abschaffung der Todesstrafe.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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