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Hirschfelds ignoriertes Erbe

Die sexualwissenschaftliche Forschung in Berlin steht vor dem Aus. Der rührigen Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft fehlen die Stellen, das weltweit bekannte Archiv für Sexologie zieht wohl in die USA

von UTE SCHEUB

Wenn sich heute SexologInnen aus aller Welt in Berlin zum Modern Talking treffen, wird immer wieder daran erinnert werden, dass die neue Wissenschaftsdisziplin einstmals von Berlin-Tiergarten aus friedlich die Welt eroberte. Das von Magnus Hirschfeld im Jahre 1919 gegründete „Institut für Sexualwissenschaften“ war das weltweit erste, seine Ausstattung und Ausstrahlung blieben unübertroffen bis heute. Doch was kümmert das all die so glücklich verheirateten Beamtenseelen in der Hauptstadt?

Die herrschaftliche Villa im Tiergarten, die sich Hirschfeld durch eine Erbschaft sichern konnte, hatte stolze 115 Räume. Sie beherbergte unter anderem die erste, stets überlaufene Sexualberatungsstelle der Republik, eine Bibliothek mit tausenden von Bänden und ein Institutsmuseum mit Dildos, Fetischen und Selbstbefriedigungsapparaten. Das Institut war sozialer Treffpunkt für Andersliebende aller Geschlechter, Zufluchtsort für Verzweifelte, eine einzige erogene Zone.

Am 6.Mai 1933 plünderten und zerstörten es die Nazis. Hirschfeld selbst wurde auf einer Weltreise von den Ereignissen überrascht und kehrte nicht zurück. In seinem ehemaligen Institut machten sich braune Organisationen breit. Was an äußerem Mauerwerk übrig blieb, erledigte 1943 der Krieg.

In Nachkriegsdeutschland erwachte die Sexualwissenschaft sehr langsam wieder zum Leben. In Berlin sollte es fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis man sich der vergessenen Erbschaft erinnerte: 1982 gründeten Schwule und Lesben in West-Berlin die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Mit kriminalistischem Spürsinn verfolgten ihre Mitglieder, allen voran Wissenschaftshistoriker Ralf Dose, den Spuren des zerstörten Schatzes aus dem Tiergarten. Einmal, erinnerte sich Dose, überreichte ihm eine alte Dame die Ausrüstung einer japanischen Geisha, „ein Kistchen mit Penissen in diversen Größen“. Die unersetzlichen Sammlungen und Archive des Instituts aber „müssen nach langjähriger Recherche als verloren gelten“.

18 Jahre nach ihrer Gründung existiert die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft immer noch, die von ihr initiierten Ausstellungen, Vortragsreihen, Publikationen,Tagungen und Initiativen sind kaum noch zu zählen. Was mit ehrenamtlicher Arbeit begann, wurde 1992 als Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft mit neun ABM-Stellen gesichert. Doch im Juli läuft die Finanzierung der letzten beiden Stellen aus.

Mag sein, dass dabei auch die politische Aufmüpfigkeit der Hirschfeld-Gesellschaft eine Rolle spielt. Penetrant haben ihre Mitglieder alle, die es nie so genau wissen wollten, immer wieder an das Vermächtnis des jüdischen Arztes erinnert. Sollte die von ihm gegründete Stiftung als Trägerin seines Institutes eines Tages aufgelöst werden, so hatte Hirschfeld in seiner Stiftungsurkunde festgelegt, „soll das Stiftungsvermögen an die Universität Berlin ... fallen ..., und zwar mit der Auflage, es als Grundstock zur Errichtung einer ordentlichen Professur für Sexualwissenschaft zu verwenden“. Der Lehrstuhl solle als „späte Wiedergutmachung“ an der Freien Universität (FU) etabliert werden, forderte die Hirschfeld-Gesellschaft in den Achtzigerjahren. Dieter Heckelmann, damals FU-Präsident, später CDU-Innensenator, soll die Debatte mit markigen Worten beendet haben: „Sexualität soll erforschen, wer damit Probleme hat. Wir haben sie nicht.“

Ein zweiter Versuch in den Neunzigerjahren an der Humboldt-Universität war nur scheinbar erfolgreich. In einem Memorandum hatte der Hirschfeld-Verein zusammen mit 15 namhaften SexologInnen die Anbindung einer sexualwissenschaftlichen Professur an die Gesellschaftswissenschaften gefordert, doch nach betonharten Auseinandersetzungen ergatterten die Mediziner den neuen Lehrstuhl. Rainer Herrn von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft mag dem Lehrstuhlinhaber Klaus M. Beier nichts Böses unterstellen. Aber eine medizinische Betrachtungsweise beinhalte die Gefahr der Pathologisierung von sexuellen Minderheiten.

Auch sonst will sich sein Verein nicht mit dem Erreichten zufrieden geben: Zum einen habe es niemals ein ordentliches „Wiedergutmachungsverfahren“ für Hirschfelds Stiftungsvermögen gegeben, zum anderen seien die wenigsten homosexuellen Nazi-Opfer entschädigt worden. Die Gesellschaft fordert deshalb die Errichtung eines „Forschungs- und Kulturzentrums für sexuelle Emanzipation“, die von Bund und Land finanziert werden soll. Ein erstes Treffen im März mit Knut Nevermann, Vertreter von Kulturstaatsminister Michael Naumann, stimmte vorsichtig optimistisch.

Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft also kämpft weiter, Kongressorganisator Professor Erwin Haeberle hingegen hat fast resigniert. „Dieser Kongress ist mein letzter Seufzer“, sagt er. Haeberle, in den USA zum Professor für Sexologie ausgebildet, wurde in Berlin beim Robert-Koch-Institut verbeamtet. Seit 1994 hat er hier das „Archiv für Sexologie“ aufgebaut, und in virtuellen Fortbildungskursen verkündet er aller Welt die historische Rolle von Magnus Hirschfeld und anderen Sexualpionieren. Was aber, wenn er im nächsten Jahr in Rente geht? „Dann fällt meine Stelle einfach weg.“ Haeberle denkt daran, sein Archiv auf CD-ROM zu pressen und nach Amerika mitzunehmen. Seine „unbändige Wut“ wird ihn begleiten. Die Wut darauf, dass die Berliner Universitäten unfähig sind, seine Aktivitäten weiterzuführen, dass Beate Uhse mit Sex Millionen verdient, aber keinen Heller als Sponsorin springen lässt.

Auch Rainer Herrn von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft könnte „aus der Haut“ fahren. Über die Bedeutung eines Sexologenkongresses macht er sich keine Illusionen: „Die Sexualwissenschaft nimmt an Bedeutung ab. Die neue Leitwissenschaft, das ist die Genetik.“ Zu erwarten sei, so fügt der promovierte Biologe hinzu, „Biologismus pur“.

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