Zwei Frequenzen, ein Stück

Heute im Radio: Charles Curtis' Simultanstück  ■ Von Felix Klopotek

Es gibt einen Trick, wie man auf einer Posaune Akkorde spielen kann. Normalerweise ist das ja so: Jemand bläst vorne rein – und es kommt hinten ein Ton raus. So ungefähr. Die Posaune ist ein Single-Note-Instrument. Wenn man aber gleichzeitig bläst und dazu noch in das Instrument hineinsingt, entstehen dadurch Überlagerungen, Interferenzen und Differenztöne, die zusammen genommen einen Ackord ergeben.

An etwas Ähnliches wird der in Hamburg ansässige Cellist Charles Curtis gedacht haben, als er vor drei Jahren seine Doppel-EP Ultra White Violet Light aufgenommen hat. Auf den insgesamt vier Seiten hört man vier verschiedene Sinuston-Modulationen, ergänzt um sparsame Einspielungen von Gitarren, Cello, Schlagzeug und anderen Instrumenten. Die vier Aufnahmen sind so konzipiert, dass man im Idealfall alle Modulationen gleichzeitig abspielen sollte. Der Clou besteht dann darin, als Komponist aus den bis zu vier übereinander gelegten Klangsegmenten kein Chaos entstehen zu lassen, sondern eine Mehrdimensionalität, ein Räumlich-Werden von Musik.

Das hört sich am Anfang noch ganz theoretisch und cerebral an, so dass die meisten abwinken dürften: Das ist doch was für Konzeptkunst-Wohngemeinschaften. Denn wer hat denn zu Hause schon vier Stereroanlagen? Ultra White Violet Light verlangt geradezu nach einer anderen Hör- und Aufführungspraxis. Und genau die wird heute geboten: Die freien Radiostationen FSK und Offener Kanal Hamburg werden in einer Simultanradiosendung wenigstens zwei der vier Seiten senden. Zudem wird Curtis im Hinterconti in der Marktstraße die Simultansendung durch eine Liveperformance noch erweitern.

Aus minimalen Voraussetzungen wird eine maximale Klangkunst erschaffen – oder weniger abgedroschen ausgedrückt: Der Minimalismus, die Sinustonmodulation, hebt sich im Zusammenklang mit anderen auf, wird zu einem Vielklang, der mitten im sozialen Raum stattfindet. Das ist eine interessante Musikpraxis, vor allen Dingen, wenn man sie in ihren angemessenen historischen Kontext stellt. In den letzten zwei Jahren war wieder viel vom Minimalismus in der Musik die Rede, meistens im Zusammenhang mit zeitgenössischem Techno oder abstrakten Electronica.

Auch eine andere Spielart des musikalischen Minimalismus wurde wieder häufig zitiert und in den Hip-Kanon aufgenommen: Der von Legenden umrankte und mittlerweile von unüberbrückbaren Streitigkeiten geprägte Kreis um das Dream Syndicate. Dieses Kollektiv schuf seine eigenen, durchaus bewusstseinserweiternden Unschärferelationen: schier endlos gespielte einzelne Sounds überlagerten sich und mutierten zu übergreifenden Soundevents – dem heutigen von Curtis nicht unähnlich.

Mitglieder des Syndicate waren John Cale und Angus MacLise, die wenig später Velvet Underground gründeten. Der Violinist Tony Conrad wurde später eine der Kultfiguren des non-narrativen, strukturellen Films, nahm mit Faust auf und wurde vor kurzem von den Klugpop-Connaisseuren Jim O. Rourke und David Grubbs mit großem Trara wiederentdeckt. Nur einer schmollt ein wenig: der mittlerweile arrivierte Komponist La Monte Young, der sich als Chef desSyndicates versteht und eifersüchtig darauf achtet, dass es keine von ihm nicht autorisierte Veröffentlichung der Gruppe gibt.

Wie dem auch sei: Charles Curtis, der seit etwa 10 Jahren als Cellist beim Sinfonie-Orchester des NDR seine Brötchen verdient und mit seinem Charles Curtis Trio zwar einen delikat dezenten Dronerock spielt, aber bislang nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekommen hat – Curtis also ist bei La Monte Young in die Schule gegangen. 20, 25 Jahre ist das her. Aber die Ästhetik hat sich bis in Gegenwart erhalten. Während das, was man heute als Minimalismus versteht, in bloße Reduktion und nicht selten variantenlose Wiederholung aufgeht, praktiziert Curtis die Dekonstruktion des Minimalen. Wie wenig das mit Konzeptkunst zu tun hat, kann man jetzt selbst überprüfen.

heute, 22 Uhr, Frequenzen: FSK 99,9 MHz (im Kabel 104,3 MHz), Offener Kanal 99,9 MHz (im Kabel 104,3 MHz)