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Stadtluft macht frei

Urban 21: Berlin als Beispiel der verdichteten Stadt kann Vorbild für die Stadtentwicklungen der Megacitys sein, in die Menschen zu recht strömen

von ROLAND STIMPEL

Städte sind naturfern, chaotisch und die Vorreiter der Globalisierung. Trotzdem wirken sie wie ein Magnet auf die Menschen. Denn nur Städte bieten die Chance zur Lösung ökologischer, ökomomischer und sozialer Probleme. Kommt man aus Moskau oder Istanbul, gar aus Kalkutta oder Lagos zurück nach Berlin, erscheint die eigene Stadt auf einmal merkwürdig aufgeräumt, wohlhabend und steril. Beinahe heimelig geht es zu in einer mitteleuropäischen Hauptstadt, gemessen an den urbanen Molochs, in denen die meisten Städter auf der Welt leben müssen. Ist, so gesehen, Berlin ein viel zu idyllischer Ort für die Konferenz „Urban 21“, mit ein paar lärmenden Autostaus, alle fünf Tage einem Mord und einer Verringerung seiner Einwohnerzahl um fast 50.000 Menschen pro Jahr? Steht Berlin synonym für Urbanität im 21. Jahhundert?

Unsere Probleme hätten sie gern, die Kommunalpolitiker aus den Riesenkesseln dieser Welt. In den Städten Lateinamerikas, Afrikas und auf dem indischen Subkontinent wuchern die riesigen Metropolen zu dynamischen und informellen Agglomerationen. Die Megastädte des Südens wandeln sich zu Orten maßloser Überfüllung und Dichte, der abgründigen sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten, der ökologischen und automobilen Verseuchung, planerischen Anarchie und der blanken Not an Wohnraum.

Nüchternes Stadtmanagement allein gäbe Stoff genug für zehn globale Konferenzen um das pragmatische Bemühen, die Kommunen zu einem menschenwürdigen Leben ihrer Stadtbürger anzuleiten. Wenig hilfreich ist stattdessen ein Fehlschluss in der aktuellen Stadt-Diskussion, der die gigantischen und armen Städte des Südens selbst zum Problem erklärt: Die Verstädterung soll dort gebremst werden, damit auch städtische Massenarmut, städtischer Verkehr, Anarchie und Bindungslosigkeit verschwinden.

Wer so denkt, verwechselt den Ort des Problems mit seinen Ursachen, liegen diese ganz woanders: im rapiden Bevölkerungszuwachs, im Mangel an Ausbildungs-, Lern- und Erwerbschancen, in ausbeuterisch-autoritären Verhältnissen in der Stadt – und vor deren Toren: Der Drang in die Städte ist vor allem eine Flucht vor der Not, Perspektivlosigkeit und Beengung auf dem Land, dessen Bevölkerung nicht am globalen Fortschritt partizipieren kann.

Denn Stadtluft macht frei. Es mag widersinnig klingen: So unbeherrschbar und unsteuerbar die großen Städte auf der Welt erscheinen, so humanisierungsresistent verharren die ländlichen Regionen. Sie sperren sich noch viel mehr gegen Bildung und Erwerbsalternativen, gegen medizinische Versorgung, gegen individuelle Freiheitsrechte für Frauen und Männer sowie gegen demokratische Strukturen.

Im besten Fall gehen sie den Weg, den europäische Städte seit Beginn des 20.Jahrhunderts eingeschlagen haben, als menschengerechtes Wohnen, Bildung und politische Mitbestimmung zu einem Recht aller Bürger wurde. Heute wohnen in den 2.070 deutschen Städten von Aach bis Zwönitz mehr als siebzig Prozent der rund 80 Millionen Bürger, die Hälfte von ihnen in den 100 größten. Zugleich registrieren die Kommunen eine dynamische Ent-Urbanisierung. Hierzulande, wo die städtische Welt vergleichsweise heil ist, ziehen die Bewohner aus den großen Städten weg. Stadtflucht bei uns dient dem Ausweichen vor störenden Reichtumsfolgen wie Blechschlangen oder unwirtlichen Stadtquartieren. Möglich ist dies nur bei hoch entwickelter, teuer bezahlter Mobilität.

Eher spekulativ dagegen ist das Szenario beschleunigter Suburbanisierung durch Stadt-Auflösung durch Internet und Handy und virtuelle Wirtschaft, die nur noch die „City of bits“ übrig lassen, wie der Bostoner Urbanist William Mitchell mutmaßte: „Die Vorherrschaft der Software über den gebauten Raum ist nicht mehr aufzuhalten.“

Tatsache aber ist: Ausgerechnet Unternehmen der Informationsbranchen kommunizieren viel enger, als es je die Stahlwerke und Autofabriken jemals taten. Silicon Valley, die Finanz-Citys wie New York, London und Frankfurt bilden Schwerpunkte von Arbeit und Kommunikation. Die Info-Wirtschaft braucht die Städte, die Vergnügungs- und Kulturökonomie braucht sie auch. Deren Nutzer drängt es nach drinnen: Vorstädte sind für Familien, Zentren für Studenten, Dienstleister, Banker, Yuppies und neuerdings für gut situierte Rentner da.

Sozial, wirtschaftlich und ökologisch zukunftsfähig sind im Norden nur die Städte, die das Leitbild des dicht bebauten Blocks mit eigener Kraft-Wärme-Kopplung, Solarmodulen auf dem Dach, preiswertem Raum für Kleingewerbetreibende und im Umfeld viel Kundschaft ernst nehmen. Bei gelungener sozialer und technischer Organisation ist es humaner und umweltschonender als die kleinstbäuerliche Krümelei von überbesiedelten Agrarregionen.

Bei dieser Organisation geht es niemals um große Würfe. Ideale, utopistische Stadtmodelle haben die urbanen Welten nur selten verbessert, ob es Gartenstädte oder modernistisch funktionsgetrennte Zentren waren. Von pragmatischen Ansätzen und gelungener Organisation sind die meisten Städte auf der Welt allerdings weit entfernt, viel weiter jedenfalls als Berlin. Weswegen es nicht der übelste Platz ist, um auch Lösungen für weit rauere Orte zu suchen.

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