: Das Paradox der Studienreformen
Die Technische Universität Berlin bringt ein einmaliges Netzwerk studentischer Studienreformer in Gefahr. Die professorale Lehre an der TU ist anerkannt miserabel. Die Hochschullehrer aber beenden jene Studi-Seminare, die innovative Lehre bieten
von CHRISTIAN FÜLLER
Eine Universität versinkt in Depressionen. Das jüngste Ranking hat Professoren wie Studenten der Technischen Universität Berlin den Nerv geraubt. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) platzierte in seiner Rangliste guter Hochschulen die TU beinahe in allen Disziplinen bei den Schlusslichtern. Der Stern machte das Ergebnis publik, dass die Berliner in Maschinenbau, dem einstigen Stolz der TU, in ganz Deutschland auf dem vorletzten Platz rangieren. Bei den Bauingenieuren gar auf dem letzten. Jürgen Sahm, der für Lehre zuständige Vizepräsident der TU, flüchtet sich in Galgenhumor. „Zum Glück bewerten CHE und Stern nur nach einzelnen Fächern.“ Sprich: ein Gesamtletzter wurde nicht ermittelt. Andere Uni-Angehörige verweigern sich solchen Ausreden.
Keine Uni hat so viele Studienreform-Inis
„Mir ist völlig unverständlich, warum die Fachbereiche der TU nicht von sich aus auf das schlechte Ergebnis reagieren“, sagt Wolfgang Neef. Neef, selbst einmal im TU-Präsidium, leitet heute das Netzwerk innovativer Ingenieursausbildung. Ihn wurmt, dass die TU ausgerechnet in der Kategorie Studium und Lehre abgeurteilt wurde. Denn keine deutsche Uni hat ein derartig dichtes Netzwerk an Studienreforminitiativen.
Die studentischen Reformgruppen heißen „Energieseminar“, „Projekt Praktische Mathematik“ oder „Projektwerkstätten“ – und erfüllen alle Kategorien, die Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an eine Verbesserung der Lehre richten: Sie operieren mit kleinen Gruppen, die selbstständig Projekte entwerfen und bearbeiten; sie sind meistens interdisziplinär angelegt; und sie legen größten Wert auf die Kommunikations- und Teamfähigkeit ihrer Studenten.
Dennoch haben die studentischen Studienreformer der TU ein „Problem“. Die Professoren sind ihnen in erdrückender Mehrheit feindlich gesinnt. Die Projekte haben nämlich eine Eigenart: Sie befinden sich in studentischer Hand – und das seit über 20 Jahren. Seminare, Labore und Übungen werden von studentischen Tutoren oder einem wissenschaftlichen Mitarbeiter angeleitet. Eine Handvoll wohlwollender Hochschullehrer steht für die Projekte ein – der Rest akzeptiert zähneknirschend, dass Studenten auch über personelle Ressourcen verfügen.
Das war bislang so. Doch der Burgfrieden zwischen konservativer Professorenschaft und Studenten droht zu brechen. Das „Projekt Praktische Mathematik“ (PPM) etwa hatte vier Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter. Seit dem Sommersemester ist es nur noch eine. Den Rest hat der Fachbereich Mathematik kassiert. Die PPMler befürchten nun, dass das über Jahre angesammelte „Wissen über Formen und Inhalte unserer Lehrveranstaltungen verloren geht“.
Dass das Mathe-Projekt moderne Lehr- und Lernformen aufgebaut hat, bestreitet niemand an der TU. Ob bei den Kursen zu Programmiersprachen oder bei der „Informationstechnik für Ingenieure“ gilt: Die Studis werden bei der Auswahl des Themas einbezogen, sie arbeiten in kleinen Gruppen und sollen sich das Wissen möglichst selbst erschließen. Doch damit wird wohl bald Schluss sein. Zwei ihrer drei Lehrveranstaltungen mussten die PPMler wegen der Stellenkürzung ausfallen lassen.
Ähnliches droht nun auch dem „Energieseminar“ der TU. Das von Studis organisierte technikkritische Seminar machte während der Tschernobyl-Krise Furore, weil es eine Art Info-Hotline für die Bevölkerung einrichtete. Nach 20 Jahren seiner Existenz nehmen die Professoren der zuständigen Fakultät Prozesswissenschaften nun plötzlich Anstoß daran, dass eine der beiden Assistentenstellen für einen Sozialwissenschaftler und nicht für einen Ingenieur vorgesehen ist. Die Blockade der Stelle trifft das Energieseminar am Lebensnerv: Die allenthalben eingeklagte Interdisziplinarität ist dort seit seiner Gründung 1980 gute Praxis.
Der Ausfall von Veranstaltungen beträfe zudem unmittelbar die Studenten: Denn für die umwelt- und energiepolitischen Seminare der Studenten-Ini gibt es voll anrechnungsfähige Scheine. Außer an der TU Berlin findet sich das praktisch an keiner deutschen Uni.
Leistungsnachweise aus studentisch geleiteten Lehrveranstaltungen – das gab es ansonsten nur während des großen Universitätsstreiks Ende der 80er-Jahre an der Freien Universität Berlin. Die Projekttutorien der FU, in denen das „selbst bestimmte Lernen“ je nach Fachbereich scheinrelevant praktiziert wurde, waren dem Prinzip der Projektwerkstätten der Technischen Uni nachempfunden: Gruppen von Studenten bewerben sich bei einer zentralen Kommission mit eigenen Themen um Tutorenstellen, die keinem Professor zugeordnet sind. Bis vor vier Jahren gab es an der Straße des 17. Juni 20 solcher Projektwerkstätten. Aber auch dort ist es zum Aderlass gekommen: Die Hälfte der Tutorengelder wurde eingespart.
Offizielle Begründung für den Kahlschlag bei den Studentenprojekten ist der finanzielle Druck auf die Berliner Hochschulen. Der hat das Adenauer-Prinzip wieder belebt: Keine Experimente. Mag die Pflichtlehre der TU laut Stern und CHE noch so schlecht sein, als erstes wird die gute Kür selbst verwalteter Studienreformprojekte beendet.
„Die Professoren“, stellt Wolfgang Neef fest, „ziehen sich auf ihre disziplinären Kerngeschäfte zurück – alles was dazwischen liegt, wird aufgegeben.“ Interdisziplinäre Ansätze, mitbestimmte Gruppenarbeit und Praxisbezüge kleiner Studentenseminare fallen so großen Lehrveranstaltungen mit Übungen zum Opfer.
Das Energieseminar bringt Vorteile im Job
Diese offiziellen Lehrveranstaltungen sind teilweise so miserabel, dass die TU-Professoren sie selbst ablehnen. Einen gerade eingereichten neuen Studiengang der Wirtschaftswissenschaftler zum Beispiel hat der von Hochschullehrern dominierte Akademische Senat (AS) der TU glatt durchfallen lassen – weil er nicht den Kriterien der Uni für eine gute Lehre entspreche. Solche Peinlichkeiten sind nicht selten.
Die TU steht exemplarisch für die paradoxe Realität der bundesrepublikanischen Studienreform: Alle wissen im Prinzip, was gute Lehrformen ausmacht. Aber da, wo die Professoren allein Regie führen, gehen Verbesserungen mit schöner Regelmäßigkeit in die Hose. Kaum ein Aspekt der zähen Hochschulreformen ist uniintern so offenkundig.
Den studentischen Projekte hilft das nichts. Ist ihr Angebot erst mal weggekürzt, dann schwindet auch die Nachfrage. „Der Trend bei den Studierenden geht eindeutig da hin“, stellt Mark Setzer vom Projekt Praktische Mathematik fest, „in den großen Vorlesungen glatt durchzurutschen, anstatt im Projekt wirklich etwas zu lernen.“ Dabei ist das eine Rechnung, die für viele Studis nicht aufgeht. Die Personalchefs der Industrie schauen stärker auf echte Qualifikationen als auf die Zertifikate, die ein Bewerber mitbringt.
Als Qualitätsmerkmal gilt bei Unternehmen, die Ingenieurs-Dienstleistungen anbieten, die Teilnahme an einem konkreten Studienprojekt. „Wer am Energieseminar Kurse belegt hat“, verriet eine Ex-Studentin ihren verdutzten Kommilitonen gerade beim Studienreformtag der Technischen Uni, „besitzt einen klaren Einstellungsvorteil.“
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