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Europas blaues Wunder

Le coq, il vive! Nie fühlte sich Frankreich großartiger als heute. Und die Grande Nation hat auch allen Grund dazu. Europa reibt sich die Augen

von SONIA MIKICH

Sie haben wirklich erfreuliche Eigenschaften, die Franzosen von heute. Gelassenheit: Frankreich feiert sein multi-ethnisches EM-Team, und niemand ist befremdet, dass weiße, schwarze und braune Gesichter nebeneinander Sieger sind. Optimismus: Zentralbankchef Jean-Claude Trichet prophezeit, dass der Fußballerfolg die Wirtschaft noch mehr ankurbeln wird, ganz wie beim WM-Titel vor zwei Jahren. Humanismus: Die bislang größte Demonstration gegen den Tschetschenienkrieg fand in Paris, der Wiege der Menschenrechte, statt. Rationalität: Die Franzosen haben das effizienteste, aber nicht das teuerste Gesundheitssystem in der Union. Lebensart: Die hiesigen Käsehersteller verteidigten bislang erfolgreich den Reifungsprozess ihrer Produkte vor kalten EU-Regeln.

Abschied von der „morosité“

Einen schönen Ehrgeiz nenne ich das, was die Franzosen uns und der Welt zeigen. Ich will sie loben, denn sie zeigen wenig Angst. Sie genießen ihre Wirtschaftsdaten und ihren EM-Titel, sie bleiben Franzosen und sind doch die eifrigsten Mitglieder eines größeren Ganzen. Sie vertrauen darauf, dass alles noch besser wird und die lange Mittagspause dennoch nicht verschwindet. Die Nation hat sich von ihrer berüchtigten morosité, der allgemeinen Verdrießlichkeit, verabschiedet, ich kenne kein Land, wo leben, arbeiten, denken und verändern so gut möglich ist wie hier.

Ausgerechnet in der Grande Nation, die keineswegs ihre nationale Identität verwässern lässt, ist die Europabegeisterung längst verwurzelt. Im Juni sprachen sich fast 60 Prozent der Bürger positiv bis enthusiastisch über die EU aus und 70 Prozent waren sogar für eine schnellere Integration. Was für Zahlen! Visionen, Ideenpapiere, Thesen zu Europa häufen sich. In denMedien melden sich Politiker und Intellektuelle zu Wort und fordern geradezu leidenschaftlich, die EU neu zu legitimieren. Transparenter, beweglicher, schlanker sollen die Strukturen werden. Eine neue Aufgabenverteilung zwischen Europa und den einzelnen Nationalstaaten sei fällig, die alten Verträge reichten nicht mehr.

Es sind eben nicht nur die üblichen Bekenntnisse, jene heiße Luft mit rosa Soße, die noch aus dem größten Kosmopoliten einen Europamuffel macht. Nein, Dissens ist gewünscht, Provokationen wie die des Innenministers Jean-Pierre Chevènement gegen Joschka Fischers Visionen erschüttern keineswegs die Republik. Wir erleben hier, was in der deutschen Politik zu selten passiert: die Lust der Politiker an Konfrontationen, die geringe Angst, eine Schlacht zu verlieren, den Willen, den Standard der öffentlichen Debatte anzuheben.

Es verfehlt die Sache, wenn nun die antagonistischen Briten oder die vorsichtigen Deutschen glauben, dass die EU-Präsidentschaft von großen Glaubenskriegen zwischen der sozialistischen Regierung und dem konservativen Präsidenten überschattet sein wird. Denn unter dem Strich bringen tatsächlich beide Machtzentren die Sache weiter. Jospin mit seinem pragmatischen Sinn für das Machbare bis Dezember, bis zur Regierungskonferenz in Nizza, und Chirac mit seinen kühnen Skizzen für die Zeit danach. Mag der Diskurs zwischen Präsident und Regierung noch so viel mit innenpolitischem Kalkül zu tun haben – 2002 ist Wahljahr – Chiracs Revolution von oben und Jospins ausgetüftelte Schritte in der Alltagspolitik sind eine produktive Arbeitsteilung. Pragmatismus ist nicht zwangsläufig das Gegenteil von Zukunftsmusik; auch das scheint typisch französisch zu sein.

Mut, Mut und nochmals Mut

Sogar am Arbeitsplatz und im Familienkreis denken viele Bürger darüber nach, was der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten von Europa und dem Vereinten Europa der Nationalstaaten ist. Wie anregend: Europa wird wieder politisiert. In den nächsten Monaten werden wir es erleben, dass es einen öffentlichen Raum gibt, der Europa heißt. Er ist in den letzten Jahren leer geworden, doch dem französischen Volontarismus traue ich zu, daran etwas zu ändern. Und die Bürger können Europa von den Politikern und Bürokraten zurückerobern, wenn sie wollen. An Europa muss nicht nur juristisch, sondern politisch gebaut werden. Parteien, Bürgerinitiativen, Künstler, Lehrer, Journalisten – man sollte ihnen JETZT die Worte Dantons einbimsen: Il faut de l’audace, encore de l’audace et toujours de l’audace – Mut, Mut und nochmals Mut.

Die Chance mitzumischen

Vielleicht hat es mit der revolutionären Geschichte dieser Republik zu tun, aber wie kaum eine andere Nation haben die Franzosen begriffen, dass im jetzigen Reformprozess alles neu und freiwillig ist. Jetzt haben wir Bürger die Chance mitzumischen, damit das Europa der 30 sich nicht zu einem Kungelclub auf Regierungsebene entwickelt. Die Diskussion um eine europäische Verfassung muss parallel zur Reform der Institutionen laufen. Es reicht nicht, die verstärkte Zusammenarbeit in der Verteidigung oder beim Euro mantra-artig herzubeten – das passiert eh schon. Umweltschutz und der Ausbau der sozialen Rechte sind die Europathemen, die Verantwortlichen Frankreichs haben keine Mühe, dies auszusprechen. Der Konsens hierzulande, dass wir eine mächtige Union brauchen mit einem politischen Zentrum und anspruchsvollen Menschenrechten, dass Europa nicht nur eine Freihandelszone sein darf – der ist elektrisierend.

Das hat nicht nur mit Psychologie zu tun. Tatsächlich untermauern harte Wirtschaftsdaten den Feel-good-Faktor. Die Arbeitslosenzahlen sind erstmalig seit Jahren unter 10 Prozent gesunken, Frankreich ist Europas zweitgrößte Adresse für ausländische Investitionen, es ist in die Spitzengruppe der High-tech-Nationen aufgerückt. Und ausgerechnet die streikfreudigen Franzosen legen laut OECD eine größere Produktivität vor als die US-Amerikaner.

Das Erfolgsgeheimnis? Psst, das Land modernisiert sich gewaltig, ohne soziale Anliegen zu verleugnen. Listig verkauft die Regierung Veränderungen als souplesse, Geschmeidigkeit. Und mildert so die Angst der Menschen vor der wirtschaftsliberalen flexibilité eines Tony Blair. Parallel zu Strukturreformen und Privatisierungen haben die Franzosen die 35-Stunden-Woche und massive Arbeitsbeschaffungsprogramme eingeführt. Sie sind dabei zu beweisen, dass Marktfundamentalismus nicht das einzige Modell ist, um Wirtschaftserfolge zu zeitigen. Dass der Staat eingreifen muss, wenn die gesellschaftlich Schwächeren von den Marktentwicklungen verletzt werden.

Wo, wenn nicht in Frankreich, kann ein unbekannter Bauer mit seinem Kampf gegen Multis und die Welthandelsorganisation zum internationalen Helden werden? José Bové zieht gegen McMerde zu Felde, und aus allen Schichten und Parteien kommt Applaus.

Es ist ein ernstes Anliegen in diesem Land, den wirtschaftlichen Fortschritt und die Zivilgesellschaft miteinander zu versöhnen. Die einstige „kleine Weltmacht“ sieht sich als Bollwerk gegen den angelsächsischen Neoliberalismus. Die Globalisierung kann gezähmt werden, wenn sich Europa als eine politisch-humanistische Weltmacht versteht. Freie Grenzen bedeuten nicht nur freien Warenverkehr. Europa ist ein großer, teurer und schwieriger Job. Wie gut, dass gerade Frankreich ihn in den nächsten sechs Monaten übernehmen muss.

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