: Der treue Glaube an den Zins
Gestern tagte die Europäische Zentralbank. Wie immer wurde mit Spannung erwartet, ob die Leitzinsen steigen. Dieses bange Interesse lohnt sich nicht – Zinspolitik ist fast wirkungslos
von HERMANNUS PFEIFFER
Leitzinserhöhungen sind „in“. Die US-Zentralbank (Fed) drohte nach ihrer letzten Halbjahressitzung am 28. Juni bereits mit einer weiteren Erhöhung. Spätestens im August wird es wohl so weit sein. Schon jetzt zucken viele Marktteilnehmer nervös zusammen. Diese Nervös-Wellen schwappen bis nach Europa. Zu Unrecht, denn die Leitzinsen werden allgemein überschätzt.
Seit langem wankt und schwankt der Euro. Notgedrungen, so scheint es, griff da auch die Europäische Zentralbank (EZB) wiederholt zu ihrer schärfsten Waffe, den Leitzinsen. Das tat sie bereits fünfmal in diesem Jahr, und die nächste Korrektur zeichnet sich spätestens seit der Fed-Junitagung ab – auch wenn der EZB-Rat gestern auf eine Leitzinserhöhung zunächst verzichtete. Viele Analysten und globale Großbanken erwarten dennoch weitere drastische Zinsschritte nach oben.
Jedoch, bislang ist die Medizin „Leitzinserhöhung“ wirkungslos verpufft. Kein Wunder, denn die Leitzinsen können weder den Außenwert der Währung steuern, noch haben sie großen Einfluss auf die Konjunktur oder die Entwicklung der Inflation.
Wie eng die Grenzen sind, in denen Leitzinsen wirken, demonstrieren Japan und die USA. In den Vereinigten Staaten rast die Konjunkturlokomotive seit fast einem Jahrzehnt voran – „trotz“ hoher Zinsen, die weit oberhalb des Euro-Niveaus liegen (seit dem 16. Mai sind es 6,5 Prozent). Umgekehrt ist es in Japan: Trotz eines Leitzinses von nur 0,5 Prozent (seit 1995) trudeln Finanzmärkte und Wirtschaft. Trotz Billigstdarlehen – und opulenter keynesianischer Staatsprogramme – will die Konjunktur nicht anspringen, grassiert Deflation. Beide Länder beweisen: Hohe Zinsen stoppen keineswegs immer die Konjunktur, niedrige Zinsen kurbeln die Wirtschaft nicht unbedingt an.
Derweil wachen „Mr. Euro“ Duisenberg und seine Zentralbank über die einzige Währung, die ohne Geld auskommt. Freilich bislang scheinbar glücklos: So hat der Euro seit seiner Einführung ein Viertel seines internationalen Wertes verloren. Trotz anziehender Konjunktur und einer prachtvollen Handelsbilanz besteht wenig Hoffnung auf eine baldige Trendwende.
Allerdings sollten solche Hiobsbotschaften den Frankfurter Geldolymp gar nicht interessieren: Es ist nämlich nicht Duisenbergs Job, den Außenwert des Euro hochzuhalten. Ob der Euro fällt oder steigt, ist egal! Die EZB hat nur das Thema „Inflation“ zu interessieren – so definiert es der Vertrag von Maastricht: „Das vorrangige Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Der Wechselkurs des Euro wird also nur wichtig, wenn er in Berlin, Paris und Rom indirekt die Preise hochtreibt, weil ein schwacher Euro halt Importe verteuert.
Das „vorrangige Ziel“ ist erreicht, wenn die Inflation unter 2 Prozent bleibt. Sonst werden notfalls „die Leitzinsen“ angehoben. Das verteuere die Kredite, bremse die Nachfrage und dämpfe den Konjunkturaufschwung und damit gleichzeitig den Preisanstieg, argumentiert die Zentralbank. Sicherlich, das westdeutsche Wirtschaftswunder belegt, wie nützlich stabile Preise und eine solide Währung sind, aber jeder Preis-Dogmatismus à la Bundesbank führt in die Irre. So ist schon die Zielzahl der 2 Prozent willkürlich. Selbst die preisfixierte Bundesbank spricht von „erheblichen Schwierigkeiten“ bei der Inflationsberechnung, es gäbe schließlich viele „subjektive Wahlmöglichkeiten“ (so die Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom April).
Auch wenn im Februar und März die Preise erstmals stärker angestiegen sind als erlaubt: Tatsächlich existiert im Euro-Land überhaupt keine Inflationsgefahr. Im EZB-Monatsbericht gibt Duisenberg dies zu: „Die Preissteigerungen sollten nicht überbewertet werden“, schließlich sei dafür hauptsächlich der starke Ölpreisanstieg verantwortlich. Doch auch wenn kein Handlungsbedarf besteht – der politische Druck nach dem rasanten Euro-Fall hat die unabhängige Zentralbank in die Knie gezwungen: In kleinen Trippelschritten erhöhte sie ihre Leitzinsen auf jetzt 4,25 Prozent.
Damit können wir leben, aber nennenswerte Steuerungseffekte wird dies nicht haben. Denn der früher scheinbar fest gefügte Zusammenhang zwischen Leitzinsen, Kreditzinsen, Inflation und realer Wirtschaftsentwicklung hat sich aufgelöst. Das hat zunächst drei Gründe: Erstens fehlt eine Mechanik zwischen öffentlichen Leitzinsen und den privaten Soll- und Habenzinsen der Banken. Seit 1967 werden diese nicht mehr vom Staat vorgeschrieben. Zweitens versuchen die Banken jeweils das Bestmögliche für sich herauszuholen, wodurch die tatsächliche Höhe der Zinsen stärker als früher „auf dem Markt“ und von der Konkurrenz bestimmt wird.
Drittens wirken die Leitzinsen unmittelbar bestenfalls bei der Refinanzierung, also der Geldbeschaffung der Banken. Diese erfolgt jedoch keineswegs allein über die Zentralbank, an die kleine Banken und Sparkassen ohnehin nicht herankommen. Wichtiger für die Geldbeschaffung sind die Anleger, vom Sparbuchbesitzer bis zum Finanzinvestor von Siemens. Zudem ist die Refinanzierung auch über andere Banken und die internationalen Finanzmärkte möglich. Vor diesem Hintergrund wirkt die Erhöhung von Leitzinsen hauptsächlich als ideelle Leitlinie – im Fall der EZB also negativ, da die ständigen Trippelschritte der EZB Unentschlossenheit und Strategielosigkeit signalisieren.
Aber nicht allein dieser gelockerte Zusammenhang zwischen Leit- und Kreditzinsen zeigt der Euro-Zentralbank ihre Grenzen auf. Die Nachfrage nach Geld und Kredit wird nämlich nicht allein vom Zinssatz – auf den die EZB zielt – bestimmt. Viel wichtiger ist, ob Unternehmen überhaupt ein lukratives Investitionsfeld entdecken. Je nach Branche kalkuliert man mit einem Gewinn zwischen 10 und 25 Prozent auf das eingesetzte Kapital – nach Zinszahlung. Da sind kleinere Leitzinsanhebungen schlimmstenfalls Nadelstiche. Und was die Finanzierung neuer Investitionen betrifft, werden Kredite immer unwichtiger und die Finanzierung über Börse und Kapitalmarkt immer entscheidender. Für eine Investitionsoffensive fehlt es nicht an Kredit, sondern vor allem an gesellschaftlicher Nachfrage im Euro-Land. Seit Jahren stagniert die reale Kaufkraft der Bevölkerung.
So sind die Leitzinsen ein zahnloser Tiger. Die wirtschaftspolitischen Themen sind andere: Ist der Sparkurs sinnvoll? Sollen wirklich vor allem die Schuldenlöcher gestopft werden? Sind Privatisierung und Liberalisierung weiterhin rasant voranzutreiben, wie es die angebotsorientierten „Marktradikalen“ fordern? Oder wäre es besser, die volkswirtschaftliche Nachfrage anzukurbeln und endlich in die marode gesellschaftliche Infrastruktur – von der Datenautobahn bis zum Bildungswesen – zu investieren, wie es kurioserweise ausgerechnet Bayern vormacht? Für diese Fragen ist die EZB freilich nicht zuständig. Warum also wird die Zentralbank so ernst genommen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen