: Ein Box-Profi auf Bewährung
Eine Geschichte wie aus der Filmphantasie Hollywoods gestrickt: Jürgen Brähmers Weg aus dem Hamburger Jugendknast und zur Resozialisierung führt durch den Boxring ■ Von Rainer Schäfer
Den Film „Hurricane“ hat sich Jürgen Brähmer noch nicht angesehen. Obwohl ihn der Leidensweg des amerikanischen Boxers Rubin „Hurricane“ Carter, der 19 Jahre unschuldig im Gefängnis saß, „schon fesselt“. Auch Brähmers Geschichte könnte in der Bronx spielen, hin- und hergeworfen zwischen Boxring und Gerichtssälen, den Kombattanten im Faustduell meist überlegen, in den kleinen Gefechten des Alltags aber überfordert.
Im Gegensatz zu „Hurricane“ beruht Brähmers Knastkarriere auf keinem Justizskandal. Der Mecklenburger aus Stralsund kollidierte wiederholt wegen schwerer Körperverletzung mit dem Gesetz: Dreieinhalb Jahre Jugendstrafe ohne Bewährung lautete im Frühjahr 1998 das Urteil.
Seit Dezember ist der 21-Jährige Freigänger der Jugendhaftanstalt in Hamburg-Wandsbek und verbringt seine Tage im lokalen Boxstall Universum. Noch einsilbiger als gewöhnlich wird Brähmer, wenn er über die „Gerichtssache“ reden soll, das „Wegschließen“ und das „Urteil, das mich ziemlich fertig gemacht hat“ und das den Erfolgs-Trip des Boxtalents mit den Stationen Deutscher Jugend-Meister, Junioren-Meister und – 1996 vor 12.000 Zuschauern auf Kuba – Junioren-Weltmeister abrupt zu beenden schien. „Ich hatte bis dahin so ziemlich alles gewonnen, es ging alles ganz fix.“
Bis der anfällige Jungboxer zu viel Interesse an Spirituosen zeigt und die Fäuste auch in den heimischen Discos fliegen lässt. Für Bernd Bönte, PR-Manager bei Universum, ist Brähmer der „Prototyp des Jugendlichen, der nach der Wende allein gelassen wurde“. Was sich beim Betroffenen so anhört: „Alles was vorher da war, war auf einmal weg.“ Bis auf die Tanzbars, die Drinks und das vernebelte Bewusstsein, sich mit der trefflich ausgebildeten Schlagkraft in der neuen Realität behaupten zu müssen.
Als sich im Frühjahr 1998 in der Jugendhaftanstalt Neubrandenburg die Türen hinter Brähmer schließen, „haben mich die meisten fallen gelassen“. Einer, der zum Delinquenten hält, ist Michael Timm, der den Athleten als Landestrainer in Mecklenburg-Vorpommern gecoacht hatte. Auf Timms Initiative wird Brähmer auf die Elbinsel Hanöfersand verlegt, in der Anstaltshalle des „Elb-Alcatraz“ trainieren die beiden zweimal die Woche und planen die Zukunft – in Freiheit, im Boxgeschäft. „Im Knast“, erzählt Michael Timm, „hat er gemerkt, dass das kriminelle Leben gar nicht zu ihm passt.“ Und Brähmer ahnt bald „unter Mördern und Totschlägern, dass ich nicht der typische Knastgänger bin. Im Vollzug bin ich viel nachdenklicher geworden.“ Seine Akte, ohne Eintrag, dokumentiert die „lupenreine Führung“ und den Wandel des notorischen Tunichtgut zum Musterhäftling.
Tiefgründige Zweifel an der Sinnhaftigkeit der handfestesten Sportart hat der Gefängnis-Aufenthalt bei Brähmer nicht hinterlassen. Dass „der Fortschritt, wo es ihn gibt“, wie Jan Philipp Reemtsma behauptet, „einer weg vom Hauen-ins-Gesicht“ ist, lässt ihn nicht am Profiboxen zweifeln. Zumal es da gar nicht so primitiv zugehe: „Man muss auch mit dem Kopf arbeiten.“ Eines aber steht für ihn fest: Schläge werden nur noch im Ring ausgeteilt.
Morgens um 8 geht Jürgen Brähmer ungeduldig im Universum-Gym auf und ab, als wolle er die während der fast zweijährigen Ringpause entstandenen Defizite in wenigen Trainingseinheiten abarbeiten. „Er reißt sich den Arsch auf“, hat Michael Timm erkannt. Paffpaff klatscht es aus der Ecke, in der Brähmer mit seinem Trainer an den Pratzen arbeitet. Der Boxer mit der drahtigen Figur fühlt sich aufgehoben in seiner Ersatzfamilie, klatscht mit Wladimir Klitschko ab, albert herum mit Juan Carlos Gomez. Im Jugendknast schlage er die „Zeit tot“, hier im Gym kann er „mit den Augen von Weltklasseboxern klauen“.
Seit ihn Box-Promoter Klaus-Peter Kohl im vergangenen Oktober unter Vertrag nahm, hat der Supermittelgewichtler (bis 76 Kilo) acht Profi-Kämpfe bestritten – alle erfolgreich, sechs davon durch K.o. und mit hohem Unterhaltungswert. Nach Brähmers letztem Sieg ließ der euphorisierte Kohl fassweise Freibier ausschenken und reproduzierte branchenübliche Superlative: „Er ist das größte deutsche Boxtalent, das ich je gesehen habe.“ Ende des Jahres soll Brähmer um die Deutsche Meisterschaft boxen, aber vorher, bremst Michael Timm, „gibt es noch einiges zu feilen“.
Außerhalb des Boxstalls braucht Timm, der in seiner Rolle als Bewährungshelfer schon einige Schieflagen in Brähmers Biografie austarieren musste, kaum noch regulierend einzugreifen. Brähmer fahre nicht einmal schwarz mit der U-Bahn. Der ist überzeugt, dass er nach seiner Entlassung „nur als Besucher in den Knast zurückkehren wird“. Etwa im Rahmen des Modellversuchs, Aggressionen mit Boxhandschuhen abzubauen, den Universum auch künftig in Vollzugsanstalten anbieten will.
Ende August soll Jürgen Brähmer vorzeitig aus der Haft entlassen werden, dann geht es „nicht in die Karibik, sondern zur Mutter nach Stralsund“. Der mecklenburgische Dickschädel will seine Ruhe haben und künftig „in den Garten gehen und nicht in die Disco“. Drei Jahre ist er noch an Universum gebunden, in der Zeit ist Boxen die „Chance, noch etwas aus meinem Leben zu machen“. Und wenn nicht? „Dann müsste ich arbeiten, müsste ich schweißen gehen.“ Ein wenig hollywoodesker Stoff, den Promoter Kohl, der sich schon die Filmrechte an Brähmers Geschichte gesichert hat, wohl kaum in Szene setzen lassen würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen