Razzia bei Russlands Bossen

aus MoskauBARBARA KERNECK

Es scheint, als habe sich die russische Generalstaatsanwaltschaft diese Woche die Losung „Kein Tag ohne Großaktion!“ gewählt. Täglich wird ein neues Metallurgie-, Erdöl- oder Presseimperium von bebauchten Männern mit eckigen Köfferchen zwecks Überprüfung seiner finanziellen Machenschaften heimgesucht. An den Kragen geht es dabei angeblich den Oligarchen, jenen zwei Dutzend Männern, die Russlands Reichtum unter sich aufgeteilt haben.

Gestern traf es auch einen Mann, über dessen Unantastbarkeit in Moskau Wetten abgeschlossen wurden: den Ex- Vizepremier Anatoli Tschubais, heute Chef der zum Monopol vereinigten Elektrizitätslieferanten Russlands. Die Rechnungskammer der Russischen Föderation untersucht, ob Ausländer auf gesetzwidrige Weise bei der Privatisierung des Giganten Aktien erworben haben. In einem Fernsehinterview bezeichnete Tschubais das Verfahren als einen Versuch der „roten Revanche“. Wörtlich sagte er: „Das ist ein Versuch, die Grundfesten des russischen Staates zu zerstören.“ Auf die Frage, wer denn die Grundfesten erschüttern wolle, antwortete er: „Jene, die sich Instabilität und Unsicherheit wünschen.“

Unsicherheit hat die Hausdurchsuchungswelle tatsächlich in der russischen Gesellschaft verursacht. Sie begann am Dienstag bei der privaten Holding Media-Most. Dort wurden auch Personalakten der Angestellten kopiert. Letzten Monat war Media-Most-Generaldirektor Wladimir Gusinski ohne Anklage ein ganzes Wochenende lang in Haft gehalten worden. Die meisten Beobachter interpretierten diesen Fall allerdings als einen staatlichen Angriff auf die Pressefreiheit – die Sender und Zeitungen der Media-Most-Gruppe, vor allem der Fernsehkanal NTV, sind dem Präsidenten und der Regierung gegenüber ausgesprochen kritisch.

Nicht in dieses Bild passen überfallartige Untersuchungen bei anderen Großfirmen in dieser Woche, veranstaltet von Staatsanwaltschaft und Steuerpolizei. Letztere rückte der Firma Lukoil und ihrem Chef Wagit-Alekperow auf den Pelz. Der verblüffte Pressesprecher der Firma hielt vor den Kameras ein Diplom hoch, mit dem das Steuerministerium sie erst kürzlich als „gewissenhafte Steuerzahlerin“ belohnt hatte.

Von derselben Behörde kamen Prüfer in die Büros des Autoherstellers Awtowas (Marke: Lada) und beschuldigten ihn, Dutzende Millionen Dollar an Steuern hinterzogen zu haben. Um die Steuer zu umgehen, sollen in den letzten Jahren in 280.000 Fällen Chassisnummern doppelt vergeben worden sein.

Schließlich traf es auch Wladimir Potanin, Generaldirektor der Unexim-Bank. In einem Brief beschuldigte ihn die Generalstaatsanwaltschaft, 1997 die Privatisierungsauktion für die Firma Norils Nickel getürkt zu haben, deren Anlagen über einem der weltgrößten Vorkommen dieses äußerst seltenen Metalls stehen. Im gleichen Brief wird Potanin aufgefordert, 140 Millionen Dollar an die Regierung zu zahlen, wenn er weiterer Strafverfolgung entgehen wolle. Ex-Vizepremier Boris Nemzow, Führer der Oppositionspartei Rechte Sache, kommentierte den Text des Briefs: „Dies ist das typische Schreiben einer Mafia-Gruppierung an einen potenziellen Schutzgeldzahler.“

Für alle Beobachter liegt auf der Hand, dass in dieser Woche ein über viele Jahre gültiger Gesellschaftsvertrag zwischen dem Kreml und der Geschäfts-und Finanzelite aufgekündigt worden ist. Kaum jemand zweifelt, dass all diese Untersuchungsverfahren etwas miteinander zu tun haben. Die Frage ist nur: Wem nützt es? Handelt es sich um Konkurrenzkämpfe anderer Oligarchen mit den Betroffenen? Agiert hier jene unter Jelzin entstandene Einflussgruppe im Kreml („die Familie“), oder zieht der Präsident selbst die Drähte?

Putin behauptete bis vor kurzem, mit alledem nichts zu tun zu haben, in Russland sei die Staatsanwaltschaft nun einmal unabhängig und in letzter Zeit übertreibe sie anscheinend ein wenig. Wer allerdings in Russland an die Unabhängigkeit des Generalsstaatsanwalts vom Kreml glaubt, wird selig. Der jetzige Inhaber dieses Amtes, Wladimir Ustinow (47), wurde bei seiner Amtsübernahme dem Föderationsrat, der seiner Ernennung zuzustimmen hat, vom Kreis der engsten Präsidentenberater geradezu aufgezwungen.

Inzwischen vollzog der Präsident plötzlich eine taktische Wende und bekannte sich erstmals – wenn auch indirekt – als Mitinitiator der Aktionen der Rechtssicherungsorgane. Die Gesellschaft der letzten Jahre sei „leider auch frei von Recht, Ordnung und Moral“ gewesen, kritisierte er. Jetzt, „wo wir dazu übergegangen sind, Ordnung zu schaffen, wird gerufen, es sei eine Bedrohung für die Freiheit, für die Demokratie“. Er wolle eine Markwirtschaft schaffen, in der niemand über den Gesetzen steht.

Nicht ganz mit dieser Erklärung stimmt aber die Tatsache überein, dass Putin mit der Säuberung nicht dort begonnen hat, wo die Realisierung der Gesetze am stärksten gefährdet ist – in den korrupten Justizorganen selbst und in der Miliz. Viele Beobachter meinen, es gehe Putin eher um die Einschüchterung politisch aufmüpfiger Geschäftsleute. Andere vermuten, Konkurrenten und Feinde des Putin-Alliierten Boris Beresowski sollten ausgetrickst werden. Es fällt jedenfalls auf, dass unter Putin bisher kein Staatsanwalt gegen diesen Erzoligarchen ermittelt.