: Das darf man einfach nicht!
Die wichtigsten Tabus einer Kultur sind sehr stark verinnerlicht und für den Fremden nicht nachvollziehbar. Ein Gespräch über das Unaussprechbare und seine unterschiedlichen Funktionen
Interview EDITH KRESTA
taz: Was ist ein Tabu?
Hartmut Schröder: Tabu wird heute häufig abwertend benutzt. Man möchte damit dem Anderen Kommunikationsverweigerung vorwerfen. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Ethnologie und der Religionswissenschaft. James Cook hat ihn mitgebracht von seinen Südseereisen. In diesem polynesischen Kontext bedeutete Tabu ein Verbot. Das heißt, beispielsweise bestimmte Räume und Plätze waren tabu, sie durften nicht betreten werden. Bestimmte Handlungen durften nicht vollzogen werden. Tabu hat in diesem Kontext zwei Funktionen: Es kann die Herrschaft der Mächtigen absichern, es kann aber auch die besonders Schutzbedürftigen schützen: die schwangere Frau, Kinder und Alte etc.
Und in der modernen Gesellschaft?
In den modernen Gesellschaften ist es etwas komplizierter. In unserem Kontext ist Tabu nicht mehr so stark auf Handlungen bezogen, sondern Tabus betreffen viel stärker die Kommunikation. Dennoch haben wir es aber nach wie vor auch mit Handlungstabus zu tun: Etwas kann zwar offiziell nicht verboten sein, aber es soll doch nicht gemacht werden. Tabus gehören also zum sozialen Kodex, sind aber (bis auf bestimmte Ausnahmen) nicht juristisch oder wie grammatische Regeln nachlesbar kodifiziert. Jeder muss wissen, dass sich bestimmte Sachen von selbst verbieten, ohne dass darüber kommuniziert wird.
Was bewirkt ein Tabubruch?
Nehmen wir beispielsweise das Inzesttabu. Inzest ist strafrechtlich verboten. In den meisten Kulturen ist Inzest ein uneingeschränktes Handlungstabu. In der Geschichte des Rechts war es ein Problem, wie man dieses Delikt überhaupt im Gesetzbuch bezeichnet. Kommunikations- und Sprachtabus haben letztlich dazu geführt, dass sich Inzestopfer nicht wehren konnten. Sie mussten über die Verletzung des Inzesttabus durch den Täter schweigen, und auch die Umgebung schwieg, weil Inzest sowohl ein Handlungs- als auch ein Kommunikations- und Sprachtabu war. In dieser Hinsicht war das Kommunikationstabu zum Schutz der Täter da.
Wie vermittelt sich ein Tabu?
Kleinkinder lernen sehr früh, was „richtig“ ist und was man nicht machen und sagen soll. Bei Tabus sind die Begründungen ebenfalls tabu, so dass das Kind – anders als bei einem Verstoß gegen eine kommunizierbare Regel – die Motivation und die Bestrafung nicht nachvollziehen kann. Das Kind wird im Falle einer unbeabsichtigten Tabuverletzung nicht darüber aufgeklärt, dass es etwas falsch gemacht hat, sondern es wird in gewisser Hinsicht selbst tabuisiert. Ein Mechanismus also, der dazu führt, dass die wichtigsten Tabus einer Kultur sehr stark verinnerlicht werden, ohne dass die Betroffenen sich dessen überhaupt bewusst sind. Probleme gibt es daher in interkulturellen Kontaktsituationen, wo der Fremde Tabugrenzen und -schwellen der für ihn anderen Kultur erst durch eigene Erfahrungen kennen lernen muss. Er kommt dann in Situationen, wo er unbeabsichtigt Handlungs- oder Sprachtabus verletzt.
Womit beschäftigt sich ein Tabuforscher?
Er erforscht auch den Umgang mit dem Verdrängten. Tabus haben ja ganz bestimmte Funktionen in unseren Kulturen. Und gerade in Kontaktsituationen mit anderen Kulturen erscheinen uns die Tabus der anderen völlig unverständlich. Sie fallen auf. Die eigenen Tabus haben sich aber so weit verselbständigt, dass wir darüber nicht mehr nachdenken.
Was heißt das bezogen auf eine interkulturelle Kontaktsituation?
Da erscheint es mir manchmal viel wichtiger zu wissen, was man nicht machen oder besser unterlassen sollte, als das, was man machen soll.
Was bedeutet dann interkulturelle Kompetenz?
Sie versetzt Individuen in die Lage, die andere Kultur besser zu verstehen und mit Vertretern anderer Kulturen besser zurechtzukommen. Das reicht allerdings in multikulturellen Gesellschaften nicht mehr aus und bleibt bisweilen nur ein schöner Bildungswert. In reale kulturbedingte Konflikte eingreifen und vermitteln kann man nämlich alleine auf der Grundlage einer interkulturellen Kompetenz noch nicht. Dazu muss man auch die Rolle eines Mediators ausüben können. Voraussetzungen dafür werden in der traditionellen Ausbildung aber weder bei Journalisten noch bei Lehrern vermittelt.
Was sind die Voraussetzungen?
Man muss bei Konflikten auch erkennen können, ob Tabus eine Rolle spielen und welche Tabus es in den beteiligten Kulturen gibt. Das ist keine Frage der Sensibilität, sondern der Kompetenz. In der eigenen Kultur machen wir das intuitiv. Im interkulturellen Kontakt ist das wesentlich schwieriger, und wir haben auch keine Entschuldigungsrituale. Der interkulturelle Tabubrecher wird dann abgestempelt als jemand, der sich nicht benehmen kann, der auffällig ist. Das wird dann seiner Persönlichkeit zugeschrieben und schließlich verallgemeinert und mit seiner Kultur identifiziert. Es ist wichtig zu wissen, wo die Verletzbarkeit am größten ist, wo wir wirklich auch aus Schutzgründen heraus Tabus aufrichten, die bestimmte Grenzen markieren. Dabei müssen wir unterscheiden, ob Tabus in legitimer Weise bestimmte Bereiche einer Gesellschaft schützen oder ob sie nur überholte Machtstrukturen stützen. Solche Tabubereiche, die verschleiern und manipulieren, müssen natürlich enttabuisiert werden.
Gibt es in unserer Gesellschaft inzwischen weniger Tabus?
Nein, die Tabus verschieben sich. Kultur und Tabu sind ja sehr dynamische Konzepte. Tabus in unserer Gesellschaft gelten mehr und mehr für Kleingruppen und Subkulturen. Auch die Linken hatten immer eigene Tabus im Sinne von „das tut man einfach nicht“. Der Bereich der Political Correctness ist in modernen Gesellschaften ohnehin eine wichtige Quelle für Tabus geworden, das heißt, wir haben es hier mit ideologisch motivierten Tabus zu tun. Ursprünglich waren Tabus ja durch Angst motiviert, später durch Scham- und Anstandsgefühle sowie durch Pietät und Rücksichtnahme. Moderne Gesellschaften haben einen hohen Demokratie- und Gleichheitsanspruch, der in der Realität nicht immer so eingehalten wird, sodass in diesen Gesellschaften besonders viele Sprach- und Kommunikationstabus zu beobachten sind: Tabus verhüllen und verschleiern das, was nicht ins Bild der Gesellschaft passt.
Wenn ein Tabu immer gebrochen wird, verschwindet es dann irgendwann?
Genau, das kann man sehen. Wir haben viele Tabus der Fünfzigerjahre beispielsweise im Bereich der Sexualität abgelegt.
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