: Schafscheiße im Kinderkrankenhaus
Eine Geschichte der Fremdheit: Wenn unverständlich anmutende Rituale die eigenen Tabus verletzen
Ausländische Kinder sind in dem Krankenhaus, wo ich arbeite, keine Ausnahme. Das mag daran liegen, dass das Krankenhaus in Altona liegt, wo sowieso viele Ausländer wohnen, und außerdem sind da die Schiffe, ich meine die Wohnschiffe, die als Unterkunft für Asylbewerber dienen. Die Mehrheit unserer Patienten sind Türken. Viele dieser Familien leben schon lange in Deutschland, kennen sich gut aus, sprechen unsere Sprache. Die Familie dieser Geschichte hat aber auf den Schiffen gewohnt und mit ihnen ist die Kommunikation nicht mehr so einfach, wenn sie Albaner oder Afrikaner sind.
Auf jeden Fall war das Kind knapp eine Woche alt, als es eingeliefert wurde, und litt an einer Lungenentzündung. Genaueres über die Herkunft des Kindes kann ich nicht sagen. Auf dem Karteiblatt stand albanisch als Staatsangehörigkeit – soweit ich mich erinnern kann – aber innerhalb Albaniens gibt es viele verschiedene Nationalitäten. An jenem Tag, bevor ich Feierabend gemacht habe, bin ich noch einmal in das Zimmer gegangen, wo das Kind lag. „Nanu? Was ist denn hier los?“, sagte ich mir, als ich die Tür nicht aufbekam. Dann bin ich ins nächste Zimmer gegangen, weil sich zwischen beiden eine Verbindungstür befindet. Diese war aber ebenso blockiert.
Im Krankenhaus kann man die Türen von innen nicht abschließen. Es muss also jemand auf der anderen Seite gestanden haben, um das Öffnen der Tür zu verhindern. Meine anfängliche Verwirrung verwandelte sich in Unruhe. Ich ging also zurück zur ersten Tür und habe so lange und stark gedrückt, bis sie aufging.
Was ich dann sah, war dermaßen unmöglich, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um es überhaupt wahrzunehmen und noch ein paar, um es zu glauben: Der Vater stand mitten im Zimmer und zog sein neugeborenes Kind, von oben bis unten mit einer undefinierbaren braunen Masse verschmiert, aus einer großen Tüte. Meine Nase war noch langsamer als meine Augen, aber dann habe ich es nicht nur gesehen, sondern auch gerochen. „Da. . ., da. . ., das ist Scheiße“, habe ich zuerst gestottert und dann geschrien. Die drei Erwachsenen guckten mich wie gelähmt an, bis die Oma das Schweigen brach, indem sie etwas sagte, was ich erst nach der dritten Wiederholung verstanden habe: „Nicht Scheiße von Person, Scheiße von Schaf.“
Die Erklärung hat nicht im Geringsten meinen Schreck vermindert. Ganz im Gegenteil wurde er immer größer beim Anblick des nackten, verschmierten Kindes und bei der Entdeckung jedes neuen Flecks dieses braunen Breis auf dem Boden, auf dem Bettbezug oder an der Wand. Meine Schreierei hatte natürlich meine Kolleginnen alarmiert und bald standen zwei oder drei von ihnen im Zimmer, die mindestens so schockiert waren wie ich.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, nahm ich das Kind, badete es und brachte es zur Untersuchung. Dann gab ich den Eltern einen Eimer mit Wasser und Putzmittel zum Saubermachen . . .Mit den wenigen Worten, die sie auf Deutsch sprechen konnten, versuchten sie, sich zu erklären. Ich glaube verstanden zu haben, dass es sich um ein Ritual handelt, das am 14. Lebenstag zelebriert werden muss, aber was für einen Sinn das hat, das konnten sie mir nicht vermitteln. Später habe ich versucht, mich bei anderen Leuten zu erkundigen. Ohne Erfolg.
Ich habe oft an diese Geschichte gedacht. Ich habe mir vorgestellt, wie die Eltern und die Oma alles vorbereitet haben. Es ist ja nicht so einfach, in Hamburg Schafscheiße zu finden. Sie mussten bestimmt weit fahren, vielleicht sogar mehrere Male. Dann mussten sie die Sachen ins Krankenhaus schmuggeln und im Zimmer alles arrangieren. Ein Bad hatten sie auch vorbereitet. Ja, das war sicherlich etwas sehr Wichtiges und Bedeutungsvolles für sie. Für mich ist es eine Verachtung des Menschen. Ich kann das nicht begreifen und ich werde es auch niemals können.
PAULINA ISABEL IRIARTE RIVAS
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