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bücher für randgruppenDenken, Erinnern und alles andere, was im Kopf ist

Anarchie und Watvogel

Natürlich hatte die aufmerksame taz-Setzerin am 26./27. Februar 2000 Recht, mich wegen des Begriffs „Raubvogel“ in meinem Text über den sich von Schlangen ernährenden Lachhabicht zu tadeln. Der Lachhabicht ist korrekterweise ein Greifvogel. Doch müssten dann konsequenterweise auch Leopard und Eisbär aus dem Reich der Raubtiere verschwinden und in die Gruppe der Greiftiere eingegliedert werden. Hier an dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit beim Schopf packen, um einen unbekannten Korrektor zu tadeln, der vor drei Jahren in meinem Text über den Austernfischer aus „Watvögeln“ schnöde „Wattvögel“ gemacht hat. Es gibt zwar das Watt und auch Vögel dort, aber eine spezielle Gruppe von Vögeln nennt sich tatsächlich Watvögel, weil sie mit ihren langen Stelzbeinen gern im Wasser waten, durchaus auch im Watt.

Das ist aber schon ziemlich lange her und so stellt sich die Frage: Warum nur bleibt dieses kleine „t“ so lange im Kopf hängen und wieso wurde der Greifvogel unversehens zum Raubvogel? Warum bin ich überhaupt so nachtragend und merke mir das? Es ist das Gedächtnis, das dafür sorgt, dass Gedächtnis mit „t“ geschrieben wird, ein ansonsten oft verschlucktes, vergessenes „t“.

Der Natur des Erinnerns gilt denn auch das Interesse des „Gedächtnis“-Buches von Larry R. Squire und Eric R. Kandel. Was passiert wirklich beim Erinnern? Vergessen wir wirklich oder ist nur die Fähigkeit verloren gegangen, Erinnerungen abzurufen, die noch irgendwo im Gehirn existieren und irgendwie wieder zugänglich gemacht werden könnten? Der Untersuchungsausschuss tagt und die Befragten schütteln gequält ihre Köpfe: „Daran können wir uns wirklich nicht mehr erinnern.“ Einfach gelogen, und wenn nicht, gibt es Möglichkeiten, über Hypnose Erinnerungslücken wieder zu schließen?

„The Melody Haunts My Reverie“, summt ein rosa gepunktetes Girl von Roy Lichtenstein auf dem Cover. Semir Zeki, Professor für Neurobiologie, rät auf dem Klappumschlag anarchistisch: „Wenn Sie sich den Kauf des Buches nicht leisten können, stehlen sie es.“ Oder fordern sie ein kostenloses Besprechungsexemplar an, möchte der Rezensent da kess entgegnen. Denn das Werk ist wirklich ziemlich hübsch.

Die einzelnen Kapitel vom Geist zum Molekül, von Kurzzeitgedächtnis bis zur biologischen Basis der Individualität werden von Kunstwerken umrahmt, die in kurzen Texten Verknüpfungen zum jeweiligen Thema schaffen. So wird aus Louise Nevelsons „Black Wall“, einem dunklen, geschmackvollen Setzkasten, eine Modulansammlung, die das deklarative Gedächtnis aufrechterhält. Und in diesem ist unter anderem auch Descartes’ Satz gespeichert: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich, der korrekterweise, so die Autoren in der Einleitung, heißen müsste: Ich habe ein Gehirn, also bin ich.

Verschiedene Verbindungen dort könnten sich nun kurzzeitig zusammenschließen, um das Individuum zu veranlassen, nach Dresden ins Hygiene-Museum zu fahren. Dort sind nämlich noch bis Oktober Setzkästen in Raumgröße zu begehen. Der Künstler Via Lewandowsky und der Lyriker Durs Grünbein haben 17 Räume eingerichtet, die alle möglichen Phänomene, Fähigkeiten und Funktionen des Gehirns und seiner Regionen behandeln. Wissenschaft und Kunst treffen entspannt wie selten aufeinander, was als Ergebnis überaus spannend zu begehen und zu beschauen ist. Natürlich sind die alten unnützen Wissenschaftsapparate und Präparate längst zu wunderschönen Kunstwerken geworden, so die fünf geköpften flugunfähigen Stubenfliegen und die Lotprobe „Tannenbaum“ aus dem Jahr 1920 zur Prüfung des Raum- und Schwerkraftverständnisses. Und wenn ein wissenschaftlicher Text dann aus frohem Kindermund schallt, der auf CD gebrannt sich in einem Player dreht, der in einer von der Mutter des Künstlers sorgfältig gehäkelten Schutzhülle steckt, dann können sich die Unversöhnlichen auch mal neugierig und unschuldig berühren.

Eine Fortsetzung findet sich im Katalog, in dessen 17 Kapiteln wissenschaftliche und künstlerische Beiträge den Räumen im Hygiene-Museum zugeordnet sind. Da liegen einzelne Teile des Rasierzeugs von Herbert Wehner. Sie begleiteten ihn ein Leben lang. Irgendwann bekam er sie allerdings nicht mehr zusammen.

WOLFGANG MÜLLER

Larry R. Squire & Eric R. Kandel: „Gedächtnis“. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999, 248 Seiten, 68 DMDeutsches Hygiene-Museum, Via Lewandowsky, Durs Grünbein: „Gehirn und Denken“. Hatje Cantz Verlag 2000, Ostfildern-Ruit, 226 Seiten, 39 DM

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