: Spröde Geistferne
DAS SCHLAGLOCHvon KERSTIN DECKER
Gestern hat der Regierende Bürgermeister von Berlin Post bekommen. Und mit ihm noch ein paar Ministerpräsidenten. Sie sollen Widerstand leisten gegen ein Theaterstück. Das wäre doch endlich mal was anderes als die Steuerreform. Wieder geistige Entscheidungen treffen!
Nun gut, es ist ein Risiko dabei. Würden wir eine Politik, die wieder geistige Entscheidungen treffen möchte, nicht für ein bisschen krank halten? Geistig entscheiden – das ist absolut vormoderner Stil. Auch müsste Diepgen das Theaterstück zuerst sehen, bevor er es verbieten dürfte. Andererseits, die Briefeschreiber haben das Stück bestimmt auch nicht gesehen. Darum schreiben sie doch die Briefe, um andere zu warnen, sich nicht durch Ansehen des von ihnen ungesehenen Stückes zu beflecken. Das ist natürlich auch ziemlich vormoderner Stil. Genau wie das Verschicken von Mord- und Bombendrohungen gegen Intendanten und Bürgermeister. Auch ist über den Autor des inkriminierten Werks längst die Fatwa verhängt. Fatwen sind nun wirklich obervormoderner Stil.
Aber kann man mehr tun für das Theater in untheatralischen Zeiten? Sogar Eberhard Diepgen würde sich spätestens an dieser Stelle für den Namen des Stückes interessieren. Es heißt „Corpus Christi“. Aber wir wollen fair sein. Wir raten Diepgen ab. Es lohnt nicht. Wer „Corpus Christi“ verbieten wollte, müsste auch „Die lustige Witwe“ verbieten. Beide besitzen ungefähr dieselbe Kühnheit des dramatischen Entwurfs. Nur dass der „Lustigen Witwe“ dieser etwas – ja, doch – frömmelnde Oberton fehlt. „Corpus Christi“ des amerikanischen Autors Terrence McNally erzählt die Passionsgeschichte Christi, ohne je die Drastik des Oberammergauer Vorbilds zu erreichen.
Terrence McNally ist katholisch und schwul. In „Corpus Christi“ sind sie auch alle katholisch und schwul. Das ist gar nicht provokant gemeint. McNally schrieb noch viel mehr Stücke mit schwulen Katholiken drin, zum Beispiel die Callas-Hommage „Meisterklasse“, nur dass die schwulen Katholiken dort nicht so auffielen.Wahrscheinlich erkennt man McNally-Stücke daran, dass in ihnen mindestens ein amerikanischer schwuler Katholik vorkommt. Das muss so sein, denn nach einem ebenso trivialen wie unabweislichen Lehrsatz schreibt jeder Autor zuletzt über sich selbst. Je nach Verständnis dieses Satzes teilt sich dann die Menschheit. Ihr amusischer Teil hat so was immer schon geahnt und fühlt sich betrogen. Die andere Hälfte weiß, dass es kein größeres, ernsteres, wesentlicheres Thema gibt als das Ich. Menschen, die das Ich von Berufs wegen für nicht existent halten – besonders gefährdet sind Biologen, Soziologen und neuere Philosophen – seien hier ausdrücklich ausgenommen. Die Solidarität der musischen Naturen nun besteht darin, sich auch für andere, für völlig fremde Ichs zu interessieren. So wie Terrence McNally eben für die zwölf Apostel und Jesus. Zwölf Schauspieler spielen zwölf schwule Schauspieler, die zwölf ein bisschen schwule Apostel spielen. Von dem Dreizehnten, der Hauptperson, weiß man das nicht so genau. Er ist überparteiisch, gewissermaßen ein Vordenker der rot-grünen Koalition. Er segnet die gleichgeschlechtliche Ehe oder eheähnliche Verbindung (dieselbe Unentschiedenheit wie bei Rot-Grün!) zwischen Jakobus und Bartholomäus, obwohl ihm Ehegattensplitting und das Erbrecht sicher völlig gleichgültig waren. Der Bischof von Edinburgh jedenfalls fand sich zu Tränen gerührt. Wahrscheinlich hat er als Einziger das Stück verstanden. Und der schwule Theologe vor zwei Wochen nach der Aufführung in Weimar natürlich. Begeistert war er. Der Bischof von Edinburgh und der schwule Theologe spürten, dass hier noch einmal einer seine Sache ganz auf Gott stellt, auf diesen vom Christentum so zugerichteten Gott. Aus solcher Glaubensunmittelbarkeit wird zwar kein gutes Theater, aber dafür ereignet sich hier etwas viel Selteneres: beinahe ein Bekehrungsversuch von der Bühne.
Nur die „bibeltreuen Christen“ haben das nicht verstanden. Und die „Christliche Mitte“. Auch dieser radikalislamische Scheich aus London nicht, der die Fatwa gegen McNally verhängte. Weil Jesus auch im Islam als Prophet gilt, der Scheich aber noch nie einem homosexuellen Propheten begegnet ist. Erzbischof Dyba sieht das sicher genauso wie der radikalislamische Fatwa-Scheich. Den rot-grünen Gesetzentwurf versteht Dyba ja auch nicht. Vielleicht ist das der Beginn einer neuen Ökumene, nein einer richtigen Glaubens-Internationale. Nur dass man diesmal niemanden aufrufen muss. Die Fanatiker aller Länder vereinigen sich ganz von selbst. In jeder Stadt, in die das Heilbronner Theater mit seiner „Corpus Christi“-Inszenierung zu Gastspielen eingeladen wird (aus Solidarität!), erreichen die örtlichen Zeitungen Briefe wie: „Euch Gotteslästerer! Bürgermeisteramt Heilbronn! Wehe Euch, die Strafe Gottes kommt auf Euch alle herab! Das ist sicher!!!“ Oder: „Intendant des Stadttheaters Heilbronn Herr Klaus Wagner! Das gotteslästerliche Theaterstück verdient nicht mehr, als dass der Blitz hineinfährt und das ganze Stadttheater niederbrennt bis auf die Grundmauern!! Auch wir im Süden sind empört.“
Und dann vernimmt man überall tiefes Erstaunen, in das sich eine Spur aufrichtigen Entsetzens mischt: Dass „so was“ noch möglich ist! Bei uns. Nach fünfhundert Jahren Nachmittelalter. Aber vielleicht gibt es doch eine Erklärung. Was, wenn das ganze Theater um das Theater eine Inszenierung des Berliner Philosophen Herbert Schnädelbach wäre? Schnädelbach hat gerade in der Zeit ein Thesenpapier veröffentlicht mit dem Titel „Der Fluch des Christentums“. Darin steht: „Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation.“ Es leide an genau sieben Geburtsfehlern (Erbsündenvorstellung, Rechtfertigungslehre als blutiger Rechtshandel, Missionsbefehl, konstitutiver Antijudaismus usf.). Darum wäre die „Selbstaufgabe der letzte segensreiche Dienst, den das Christentum unserer Kultur nach 2.000 Jahren zu leisten vermöchte“. Man liest und denkt: ein Aufklärer geradewegs aus dem 18. Jahrhundert! Derselbe fast kindliche Richtig-oder-falsch-Gestus im Urteil über kulturelle, über geistige Dinge. Kein Gedanke, dass Aufklärung eine Kultur immer nur zähmen, befrieden, humanisieren kann, aber niemals die Substanz schaffen, aus der sie lebt. Und alle Substanzen – für Europa sind es noch immer die Antike und das Christentum – sind mehrdeutig. Der Philosoph aus dem 18. Jahrhundert und die „Christliche Mitte“ gehören zusammen! Beide eint eine gewisse spröde Geistferne. Sie ist zuletzt die Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen.
Nehmen wir die Sache als Theater. Wir erleben ein real existierendes Stück Vorvergangenheit. Einen Glaubenskampf – Orthodoxie gegen Aufklärung, Aufklärung gegen Orthodoxie – auf der Bühne des 21. Jahrhunderts.
Hinweise:Wer „Corpus Christi“ verbieten wollte, müsste auch „Die Lustige Witwe“ verbieten„Das gotteslästerliche Stück verdient, dass der Blitz hineinfährt und das ganze Theater niederbrennt“
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