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Das Ende der Seidenstraße

Givet im Arbeitskampf. Die Reaktionen in Paris? „Sozialer Terrorismus“. Die Meinung in den Gärten um die Fabrik? „Jeder verteidigt sein Beefsteak“

aus Givet DOROTHEA HAHN

Am Ende der Seidenstraße versperren rostige Eisenkarren und verkohlte Viskose-Spulen den Weg. In der Luft hängt alt gewordener Plastikgestank. Die Frauen und Männer zwischen 30 und 50 Jahren, die vor dem Tor der Fabrik Cellatex stehen, sind überzeugt, dass sie keine Zukunft mehr haben. Auch nicht mit der zweijährigen Überbrückungshilfe, die ihnen die französische Regierung in der Nacht zu gestern bewilligt hat. „Das ist ein bitterer Sieg“, sagt ein Arbeiter, der sich anschickt, die Barrikaden zu räumen, „wir mussten erst mit Gewalt drohen, damit man überhaupt mit uns verhandelt hat.“

Ohne Drohung keine Verhandlung

Die 153 Arbeiter in dem 7.000-Einwohner-Ort Givet haben Frankreich zwei Wochen lang in Atem gehalten. In Paris warf man ihnen „Öko-Terrorismus“ und „sozialen Terrorismus“ vor, „Geiselnahme der Nachbarschaft“ und „unzulässige Drohungen“. Und mehrere Minister und der Premierminister suchten händeringend nach Auswegen aus dem Konflikt bei Cellatex, in dem jederzeit ein explosiver Ausgang möglich schien.

Seit dem 5. Juli, als ein Handelsgericht die Abwicklung von Cellatex beschloss, hatten sich die Arbeiter in den baufälligen Backsteinmauern ihrer Fabrik verschanzt. Sie verlangten Umschulungen, eine Abfindung und die Lohnfortzahlung. Einige ihrer Gewerkschaftsvertreter suchten sogar noch weiter nach einem solventen Übernahmeinteressenten für die Fabrik. Doch ihre Hilferufe verhallten.

Erst als sie ankündigten, sie würden das zur Viskose-Herstellung benutzte Material in ihrer Fabrik nutzen, um die Gemäuer zu sprengen und die benachbarte Maas mit Schwefelsäure zu vergiften, kam Bewegung in die Sache. Um ihrer Drohung Nachruck zu verleihen, ließen die Besetzer vor laufenden TV-Kameras mit Schwefelsäure gefüllte Luftballons explodieren. Und in der Nacht zu Dienstag, als wieder eine Verhandlungsrunde ergebnislos zu Ende gegangen war, leiteten sie eine Probe von 4.000 Liter Schwefelsäure, vermischt mit tiefroter Farbe, in einen – allerdings gestauten – Zufluss zur Maas ein.

Givet, das am äußersten Zipfel der tief nach Belgien hineinragenden französischen Ardennen liegt, rückte ins Zentrum der französischen Aktivität. Selbst die Nachbarhauptstadt Brüssel mischte sich ein. Denn die Maas überquert 300 Meter hinter der Fabrik die Grenze, und 40 Kilometer weiter filtert die belgische Hauptstadt Trinkwasser aus dem Fluss.

„Wir haben hier nichts mehr zu verlieren“, erklärt der 38-jährige Fréderic, der früher die Schlussaufsicht bei der Viskose-Herstellung machte, mit ernstem Gesicht, „in Givet gibt es schon jetzt 22 Prozent Arbeitslose. Mit uns kommen noch mal 153 dazu. Eine Arbeit werden die meisten von uns nie wieder finden. Wir sind tot.“ Zwei Wochen lang hat er Tag und Nacht in der Fabrik verbracht, ist müde geworden und so gereizt, dass er schon wegen Kleinigkeiten streitet. Aber an Aufgeben hat er „zu keinem Zeitpunkt“ gedacht, „wirklich nie“.

Die 40-jährige Chantal, die bei Cellatex Farben gemischt hat, auch nicht. „Wir konnten uns doch nicht einfach so abfertigen lassen. Ohne gar nichts“, sagt sie. Bei Cellatex, wo sie mit ihren sieben Jahren Betriebszugehörigkeit noch ein „Neuling“ war, erlebte Chantal bereits ihre zweite Abwicklung. Ihre erste war im örtlichen Tesa-Werk von Beiersdorf. Das zog „wegen der niedrigeren Löhne“ nach Italien um, erinnert sie, „aber inzwischen haben die auch Italien schon wieder verlassen. Und hier gibt es für Arbeiterinnen wie mich keine Jobs mehr. Dabei habe ich noch 20 Jahre bis zur Rente vor mir.“

Einst Zentrum der Textilindustrie

In den Ardennen, einstmals ein Zentrum der französischen Metall- und Textilproduktion, sind mit den Jahren fast alle Industrieanlagen verschwunden. Zuerst waren es die Anlagen des Schieferabbau – er war nach Kriegsende in Spanien billiger. Dann schlossen die Hochöfen. Zuletzt legten die Textilunternehmen die Schlüssel unter die Türe, um ihre Produktion in Nordafrika, Osteuropa und Südostasien weiter zu führen. Heute ist das enge Maas-Tal eine Anhäufung zerfallender Fabrikbauten. In den Dörfern längs des Flusses haben zahlreiche Geschäfte für immer die Rollos heruntergelassen.

Nur im AKW läuft es noch gut

Die einzige neuere Industrieansiedlung in der Region ist das Atomkraftwerk von Chooz. Doch das AKW in der vorletzten Maasbiegung vor der belgischen Grenze braucht nur „Leute mit Diplomen“. Solche wie die Arbeiter von Cellatex haben dort keine Chance. „Wir sind Globalisierungsopfer“, sagen sie bitter.

Der Niedergang von Cellatex hat schon in der Elterngeneration der jetzt abgewickelten Arbeiter begonnen. In den Gemüsegärten der kleinen Backsteinhäuser rund um die Fabrik, wo die einstigen Textilarbeiter heute Unkraut zwischen den Möhren rupfen und Salatköpfe ernten, erzählen sie, wie Rhône-Poulenc, Gründerin und langjährige Eigentümerin der Fabrik, sich in den Achtzigerjahren gegen das Textil entschied und 1991 die Fabrik zu einem symbolischen Preis an drei seiner leitenden Angestellten verkaufte. Diese drei neuen Eigentümer jedoch verpassten in den Neunzigerjahren die nötigen Investitionen und die Diversifizierung der Produktion, reihten einen gescheiterten Übernahmeversuch an den nächsten, senkten schließlich peu à peu die Löhne. Bei der endgültigen Schließung der Fabrik verdienten dort nur noch ganz wenige Arbeiter mehr als 2.000 Mark. Und auch die 13. Monatslöhne und vermögensbildende Maßnahmen waren längst verschwunden. Trotzdem war das Unternehmen hoch verschuldet und hatte trotz eines gefüllten Auftragsbuches keine Aussicht auf einen Weg aus der Krise. „Rhône-Poulenc wollte raus, aber das Drecksgeschäft sollten andere erledigen. Eine Massenentlastung wollte Rhône-Poulenc dem Image zuliebe vermeiden“, sagt einer der gärtnernden Rentner, der früher für Cellatex Transporte fuhr.

Die Gärten der Siedlung neben der Fabrik wären bei einer Protestsprengung die ersten Opfer geworden. Doch kritische Töne sind dort in den letzten Wochen nicht laut geworden. „Jeder verteidigt sein Beefsteak“, sagt ein pensionierter Renter schulterzuckend. „Ich verstehe die Jungen nur zu gut“, meint ein anderer, zahnloser Alter, der vor Jahren wegen des Endes der Stahlindustrie in den Vorruhestand geschickt wurde, „sie tun mir Leid. Natürlich unterstütze ich sie.“

Auch der konservative Bürgermeister von Givet, Alain Vandevelte, bringt kein böses Wort über die Aktionen der Fabrikbesetzer über die Lippen. Dass sie ihn eine ganzen Tag und eine Nacht in der Fabrik festgehalten haben, erzählt er nur widerwillig. Eine „Geiselnahme“, nennt er es nicht. Und an eine Sprengung der Fabrik will er nie ernsthaft geglaubt haben. Da hätten die Medien „maßlos übertrieben“. Bürgermeister Vandevelte, der eine Apotheke am Hauptplatz im Ortszentrum betreibt, sieht allerdings auch die Zukunft seiner Region nicht so schwarz wie viele seiner Mitbürger. Es werde neue Arbeitsplätze geben, versichert der Lokalpolitiker. Bloß welche? Das weiß auch er noch nicht.

Das 300 Kilometer entfernte offizielle Paris hingegen befand sich gerade im Freudentaumel über das „französische Wunder“, als der Konflikt bei Cellatex in Givet ausbrach. Die großen nationalen und selbst manche ausländischen Medien sangen gemeinsam mit der rot-rosa-grünen Regierung Lobeshymnen auf das Wirschaftswachstum, den Rückgang der Arbeitslosigkeit und den angeblich ungebremsten Optimismus der Franzosen.

Jede Woche macht eine Fabrik zu

Normalerweise wäre die Nachricht von der Abwicklung einer kleinen Fabrik in dem in Europa ohnehin sterbenden Sektor Textil in der nationalen Euphorie untergegangen. Allenfalls die Lokalzeitung hätte größere, menschelnde Reportagen gebracht. Möglicherweise hätte die nationale Wirtschaftspresse noch das „Ende der Kunstseide in Frankreich“ kurz vermeldet. Aber mehr wäre nicht drin gewesen. Schließlich macht fast jede Woche irgendwo in Frankreich eine Fabrik zu, verlagert ihre Produktion in ein Billiglohnland und schickt ein paar dutzend oder hundert Menschen auf die Arbeitsämter. Und schließlich waren sie auch mit den jüngsten Fabrikschließungen bei dem Haushaltsgerätehersteller Moulinex in der Normandie, bei den Schuhfabriken an der Loire und in der Vendée und bei vier Aluminiumwerken von Péchiney in den Pyrenäen so verfahren.

Das Ende der Viskose-Produktion

Dass im Fall Cellatex nichts normal verlieft und jetzt sogar ein recht ansehnlicher Sozialplan zustande kam, verdanken die Arbeiter der Eskalation ihrer Drohungen. „Zum Glück hatten wir hier explosives Material“, versichert Didier, der früher eine Arbeitsgruppe im Werk leitete, „vor allem die Schwefelsäure war sehr gut für uns.“

Mit der Produktion der besten Viskose Frankreichs ist es in Givet freilich für immer vorbei. Die besonders flachen Fäden, die sogar für Verbandsmaterial benutzt wurden, wird es nicht mehr geben. Bei der Industrieruine von Cellatex ist in Zukunft die französische Seidenstraße zu Ende. Spätestens im Jahr 2005, wenn der europäische Textilmarkt gänzlich liberalisiert wird, dürften auch die verbleibenden Fabriken in Deutschland, Belgien, Italien und Spanien dem Weg von Cellatex folgen.

Die spektakuläre Kampfmethode der Arbeiter in Givet hingegen hat bereits Nachahmer gefunden. In den neuen Zeiten der Globalisierung scheint der Klassenkampf zu den Methoden des 19. Jahrhunderts zurückzufinden.

In mehreren französischen Fabriken diskutieren in diesen Tagen Belegschaften über den Sinn von „sozialterroristischen“ und „ökoterroristischen“ Aktionen. Im elsässischen Schiltigheim, wo der Heineken-Konzern eine Bierbrauerei stilllegen will, ist es mit der Diskussion vorbei. Dort will man schon bald zur Tat schreiten. Gestern morgen kündigten die Brauerei-Arbeiter an, sie würden die Fabrik in die Luft sprengen, wenn sie keine Garantien für den Fortbestand des Standortes bekämen.

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