: Der ehrliche Einzelgänger
Er lehrte Romy Schneider die Dinge des Lebens und porträtierte am liebsten, was er selbst kannte: den zerfallenden Kosmos der französischen Bourgeoisie. Zum Tode des Regisseurs Claude Sautet
von RAINER GANSERA
Er zählte zu den großen Einzelgängern des französischen Kinos. Claude Sautets schmales Werk – 13 Spielfilme, gedreht zwischen 1960 und 1996 – hatte eine außergewöhnliche thematische und stilistische Kohärenz. Sein Thema: der Kosmos des bürgerlichen Alltags, durchkreuzt von Blicken, die Leidenschaft suchen und verfehlen. Sein Stil: klar, nüchtern, direkt.
In „Die Dinge des Lebens“ (1970), dem Film, der Sautet international berühmt werden ließ, gibt es eine Szene, in der Romy Schneider in ein Badetuch gehüllt an der Schreibmaschine sitzt. Sie arbeitet als Übersetzerin und sucht nach dem französischen Wort für das deutsche „verschönern“. Sie fragt: „Wie heißt auf Französisch, wenn man lügt, indem man ausschmückt, etwas hinzudichtet?“ Michel Piccoli, der hinter ihr sitzt und ihre nackten Schultern betrachtet, sagt: „affabuler!“ Diese Art des Lügens wollte Sautet immer vermeiden: das ausschmückende Fabulieren, das Pittoreske, Dekorative. Er fühlte sich dem klassischen Erzählkino, seinen Vorbildern Jean Renoir und Jacques Becker verpflichtet, was für ihn hieß: keine Effekthascherei.
Sautet war ein wirklicher „Schauspielerregisseur“. Er schenkte Michel Piccoli, Yves Montand, Daniel Auteuil, und vor allem den Actricen Romy Schneider, Sandrine Bonnaire und Emmanuelle Béart ihre eindringlichsten und nuanciertesten Rollen. Er war Romy Schneiders Lieblingsregisseur. „Ich habe mit sehr berühmten Regisseuren gedreht“, sagte sie, „doch zu Claude Sautet habe ich das tiefste Vertrauen gefasst. Er hat mich die Dinge des Lebens gelehrt – er hat mir etwas über mich selbst beigebracht.“
Sautet konnte auf Romy Schneiders ausgeprägten Willen zu professioneller Perfektion eingehen, weil er ihn selber hatte. Er verstand die persönlichen Unsicherheiten und seelischen Abgründe der Schauspielerin, weil er Ähnliches von sich kannte. So entstand ein gegenseitiges, stillschweigendes Einverständnis, das man den Filmen ansieht, die sie gemeinsam gemacht haben: „Die Dinge des Lebens“, „Das Mädchen und der Kommissar“, „César und Rosalie“, „Eine einfache Geschichte“, Oscar-Nominierung in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“.
Nirgendwo sonst konnte Romy Schneider derart selbstbewusst aus sich herausgehen. Sie war seine ideale Protagonistin, verkörperte jene Mischung aus Sinnlichkeit und würdevoller Distanz, die er suchte, und sie brachte durch die Unbedingtheit ihrer Leidenschaft das fassadenhafte Selbstbewusstsein seiner Männerfiguren zum Einsturz.
Claude Sautet wurde 1924 als Sohn eines Industriellen in Montrouge, einem Vorort von Paris, geboren. Nach dem Besuch einer Kunstakademie verdingte er sich als Sozialarbeiter und Musikkritiker. Er absolvierte die Pariser Filmhochschule und verschaffte sich einen Namen als Drehbuchautor für Marcel Ophuls, Jacques Deray, Franju, Philippe de Broca. Parallel zur Nouvelle Vague kam er zur Regie, aber er gehörte nie einer Schule oder Gruppierung an. Er schwamm nicht im Strom der Protestgeneration mit, sondern konzentrierte sich auf die Welt, die er kannte: den zerfallenden Kosmos der französischen Bourgeoisie nach 68.
Teils mit komödiantischer Ironie, teils mit unnachgiebiger Strenge zeichnete er die beruflichen und emotionalen Katastrophen von Architekten, Ärzten, Juristen und kleinen Unternehmern auf. Seine Helden setzt er mit kühler ästhetischer Brillanz und großem psychologischen Feingefühl in Szene: wie sie zwischen Stadtwohnung und Landhaus pendeln, in Cafés und Autos die Dramen ihres Scheiterns durchleben.
Besonders in den melancholischen Kammerspielen seiner späten Filme – „Ein Herz im Winter“ (1992) und „Nelly und Monsieur Arnaud“ (1995) – lässt er seine Figuren immer wieder vor Spiegeln agieren. Sie erscheinen verdoppelt: mit der Vorderseite, auf der sie Haltung und Gesicht zu wahren versuchen, sich abgeklärt und souverän geben, und der Rückseite, die von heimlichem Begehren, von ungelebten Träumen und Leidenschaften erzählt. Vexierbilder, die keiner so meisterlich auf die Leinwand brachte wie Claude Sautet.
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