Eine deutsche Verführung

Mit dreißig Mark ein Vorurteil knacken

Bei keinem anderen Nahrungs- und Genussmittel ist die Anbetung des Mediterranen und die Verachtung des Eigenen so auffällig wie beim Wein. Mit Geschmack hat das wenig zu tun. Fachleute aller Länder sinken vor deutschem Spitzenweißwein andächtig auf die Knie und sind sich einig, dass er Weltklasse ist und zu den schönsten und eigenständigsten Gewächsen im großen Weinsee gehört. Doch die meisten Weintrinker haben kaum eine Vorstellung von dem, was da an Spitzen auf den Steilhängen an Mosel und Rhein, Neckar und Main überhaupt produziert wird. Das hat einen einfachen Grund: Sie haben noch nie einen großen deutschen Wein getrunken.

Die übliche Erklärung für diese Ignoranz ist das hohe Risikopotential und große Durcheinander beim deutschen Wein. Das stimmt. Es gibt: QbA, Kabinett, Spätlesen, Auslesen in trocken, halbtrocken, lieblich, dazu Eiswein und (Trocken-)Beerenauslesen. Allein in Rheinhessen wachsen vierzig verschiedene Rebsorten (in Burgund sind es vier) und Trillionen unbekannter Lagennamen vom Herrgottsacker bis zum sprichwörtlichen Nacktarsch nerven uns. Wer als Halblaie einen deutschen Wein kauft, weiß nie, was in der Flasche drin ist. Spitze, Durchschnittsware oder eine laue Plörre? Orientierung: null!

Auch jenseits der Zumutungen des Weingesetzes und seines Bezeichnungsirrsinns gibt es weitere Gründe für die Bevorzugung des Italieners: die Mode, die eigene Dummheit, das rollende „R“ vom „pinogrrridscho“, die Urlaubserinnerungen, die Toskanaterasse. Das traumatische Kindheitserlebnis mit der Auslese von Tante Hedwig. Und dann – igitt – haben einige deutsche Weine auch noch ein süßes Schwänzchen. Außerdem sollte man die besten noch einige Jahre im Keller liegen lassen. Und wer hat heute noch einen lagertauglichen Keller? Dann doch lieber den Rustikaloitaliener.

An dieser Stelle, wir sind ja unter uns und haben keinen Beratervertrag beim Deutschen Weininstitut, nochmals ein freundschaftlicher Rat. Probieren Sie’s noch mal: Gehen Sie nicht in den Supermarkt, sondern in einen Weinladen, der mindestens eine sündteure Flasche über fünfzig Mark im Fenster stehen hat. Gehen Sie mutig rein, erzählen Sie, was Sie sonst gern trinken. Und verlangen Sie dann einen deutschen Spitzenwein für dreißig Mark. So viel sollte Ihnen ein geknacktes Vorurteil wert sein. Aber Obacht: Womöglich trinken Sie nie wieder weiße Toskaner.

MANFRED KRIENER