: Mediterrane Sintfluten
Seitdem der Italiener um die Ecke die gemeine Schnitzelkneipe abgelöst hat, wimmelt es in deutschen Küchen nur so vor „Sugo“ und „Carpaccio“. Soße und Braten haben ausgespielt. Gewonnen hat dennoch das deutsche Biedermeier und nicht die mediterrane Leichtigkeit
von ANDREA ARCAIS
„Carpaccio vom Deichlamm“ schmeichelt sich das Gericht aus der westfälischen Speisenkarte auf den Teller des weltläufigen Gastes und signalisiert damit vor allem: Der alte „Deichlammbraten in Estragonsoße“, ist ein Gericht, das sich nicht verkaufen lässt. Aber „Carpaccio an Estragonsugo“ – das adelt doch. Schließlich muss jedem halb gebildeten Esser klar sein, dass unser Schäfchen aus kalter norddeutscher Küstenlandschaft eine kulinarische Ehe mit der sonnenverwöhnten mediterranen Küche eingegangen ist. Das verspricht Temperament und den Duft ligurischer Kräuterwiese. Was könnte schöner sein in der Tatortkulisse im nebligen lippischen Detmold?
Tatsächlich outet sich das Carpaccio als ordinärer Lammbraten, dünn aufgeschnitten, lauwarm serviert in parfümierter Soße mit deutlicher Essigüberdosis. Sechs armselige Scheibchen liegen auf einem kalten Teller verstreut und haben keine Chance, sich die Füße im Soßenklecks nass zu machen. Was tut mehr weh: das ungeschickte Layout auf dem Teller oder die adstringierende Säure im Mund?
Dennoch: Mit derlei Ungemach lässt sich Geld machen. Mit Lammbraten in Estragonsoße eben nicht. Auch Rehgulasch heißt deshalb immer öfter Sugo vom Wild, und statt Erbsensuppe servieren wir Minestrone. Fragt man Gastronomen, warum bewährte Bratenscheiben plötzlich in landesweiten Epidemien zu „Carpaccio“ mutieren, dann ist klar, wer schuld ist an solcher Sprachverirrung: der Gast. ER möchte keine deutschen Gerichte, sondern irgendwie mediterrane. Italien hat die Lufthoheit über dem Restauranttisch übernommen.
Und wenn halt kein italienischer Pächter zur Hand ist, muss der Eugen sein Lokal in ein wohlklingendes „Da Eugenio“ umtaufen. Im Sauseschritt wird dann aus deutschem Kernschinken, prima eingekauft im Gastrogroßhandel um die Ecke, ein super „Prosciutto“. Toastscheiben aus dem Supermarktregal verwandeln sich über Nacht in „Crostini“.
Auch die Maultaschen heißen jetzt „Agnolloti mit Gemüsefüllung“. Man bekommt sie vorgekocht, im praktischen Plastiksäckchen eingeschweißt, und braucht sie nur noch aufwärmen, aus dem Sack holen und mit Parmesan bestreuen. Der kommt als Streu aus dem Papptrichter, Marke „geriebener Hartkäse“ mit dem Odeur alter Socken. Die Leute schlucken es runter und träumen sich mit den letzten Urlaubserinnerungen ihren Fraß lecker.
Das italienische Virus hat auch seriöse Betriebe erfasst. Wundervoller Rheingauer Tresterbrand wird von angesehensten Winzern als Grappa verkauft, süffig trockener Rieslingperlwein heißt „Riesecco“. In Stuttgart wurde schon die erste „Bäckeria“ gesichtet. Über die angeblichen Pizzen, die mit extra dickem Belag auf extra dickem (Quark-)Teig serviert werden, decken wir den Mantel des Schweigens. Ganz Berlin hat inzwischen mehrere tausend „italienische“ Lokale. Authentisch italienisch gekocht wird in acht Restaurants.
In kulinarischen Fachblättern wird die Abschaffung von Bratwurst und Schweinebacke in der Regel so beschrieben: Die italienische Küche habe einen ungeheuren Siegeszug vollzogen. Mediterrane Küche sei leichter und gesünder und deshalb so beliebt. Die italienische Foodindustrie freut es – und sie schaltet Anzeigen. Prosecco und Pinot Grigio fließen in breiten Strömen und dürftiger Qualität über den Brennero.
Auf der Strecke bleibt beides: die deutsche Küche, die herrliche Produkte und Gerichte hat – und die italienische gleich mit. Gewinnen kann nur die Einfallslosigkeit und Dummheit deutscher Gastronomen, durch deren kulinarischen Overkill der letzten dreißig Jahre es überhaupt so weit kommen konnte. Wer sich heute um die Belebung des eigenen Wirtshauses bemühen will, der kümmert sich nicht um die Hebung der Qualität, sondern um einen Crashkurs im Buchstabieren italienischer Speisenamen.
Dabei existieren in vielen Gegenden deutsche Regionalküchen, die neu zu präsentieren wären. Es gibt erfreuliche Beispiele – allerdings fast nur in der Spitzengastronomie. Es ist natürlich leichter, auf einer internationalen Welle mitzuschwimmen, die Produkte vom Großmarkt zu kaufen, anonym, was Herkunft und Geschmack betrifft, als sich in der eigenen Region umzuschauen. Wo sind denn die Produzenten, Bauern und Züchter, die der Gastronomie hochwertige heimische Produkte liefern? Darauf angesprochen, hören wir die kratzende Platte, es gebe vor Ort keine ausreichende Menge und Qualität. Wo keine Nachfrage geschaffen wird, versiegt irgendwann tatsächlich auch das beste Angebot. Self-fulfilling Prophecy nennt man so was wohl.
Regionalität ist ein inflationär benutzter Begriff bei Gastronomievereinigungen geworden. Doch jenseits dieser Worthülse werden kaum Konsequenzen gezogen. Ein krasses Beispiel der Verwirrung bot ein parlamentarischer Abend der Hotel- und Gaststättenvereinigung Nordrhein-Westfalens. Bei Bergischem Lamm und anderen Leckereien aus der heimischen Speisekammer wurde den Parlamentariern die Bedeutung der Region für Gastronomie und Tourismus des Landes erklärt. Pech nur, dass das „bergische Lamm“ aus Neuseeland kam. Die HOGA-Vertreter wussten, darauf angesprochen, nichts davon. Dabei bietet gerade das Bergische Land hervorragende eigene Produkte – man denke nur an den ausgezeichneten Ziegenkäse von Quinke aus Schwelm. Da aber der Einkauf über die konventionelle Großmarktschiene abgewickelt wird, bekommen wir immer die gleichen Geschmäcker auf den Teller. Und die Produzenten können ihre Höfe in Streichelzoos für Großstadtkinder umwandeln.
Dabei geht es nicht um ein regionalistisches „Tümeln“ und das chauvinistische Lob der eigenen Küche vor allen anderen in der Welt. Nicht in der Abgrenzung liegt die Würze, sondern in der Kombination vieler Möglichkeiten. Und in der Rückbesinnung auf die eigenen guten Sachen. Besonders spannend sind dann die Kreuzungen. Probieren Sie doch einmal deutsche Rieslinge mit italienischen Salame – Sie werden sich wundern, wie das zusammengeht! Es gibt übrigens auch Italiener, in Italien wohlgemerkt, die die fruchtigen und leichten deutschen Rieslinge für sich entdeckt haben und sie hemmungslos mit den eigenen Regionalküchen verbinden.
Was mich wundert: Warum wird es den Köchen in deutschen Gasthäusern eigentlich nicht stinklangweilig mit ihrem ewig gleichen Kram? Der Gast und Verbraucher verliert ein ganzes Geschmacksuniversum jenseits der standardisierten „mediterranen“ Menüfolgen. Den Wirten aber gehen die Leckerschmecker als Gäste verloren, die auch schon mal genauer wissen wollen, was da so alles auf dem Teller landet. Aber Neugierde wird in unseren Wirtsstuben ohnehin als Nölerei missverstanden.
Was bleibt zu tun? Suchen Sie als Esser gezielt nach deutscher und regionaler Küche jenseits der Schnitzelbuden. Nerven Sie den Wirt, wenn er wieder mit Sugo und Tagliatelle daherkommt, wenn er breite Nudeln mit Gulasch serviert. Und: Nichts spricht dagegen, zu Hause selbst die regionale Küche neu zu entdecken. Marinieren Sie selbst mal wieder mit heimischem Rapsöl, Nussöl, Mohnöl – es muss nicht immer toskanisches Olivenöl sein. Und vor allem: Lassen Sie sich von all den Pseudo-Italienern nicht den Geschmack vermiesen.
ANDREA ARCAIS, 40, ist Geschäftsführer von Slow Food Deutschland. In Sardinien geboren, kam er zu einem Zeitpunkt nach Deutschland, als Prosciutto und Parmesan noch unbekannte Ingredenzien waren
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