: Globalisierung von unten
Der VW-Konzern unterhält Produktionsstätten in aller Welt. Die Interessen der Arbeiter werden von Betriebsräten vertreten. Im südafrikanischen Werk drohen die Folgen eines Streiks gegen schärfere Arbeitsnormen die weltweite Vernetzung der Volkswagen-Basis zu gefährden. Hintergründe aus Uitenhage
von MARTIN KEMPE
Von seinem Amtszimmer schaut Phumele S. Ndoni direkt auf den Marktplatz, ein mit schwindsüchtigen Bäumen bepflanztes, durch Plastikband abgesperrtes Karree. Eine rund hundertköpfige Gruppe dreht dort mit rhythmischen Gesängen ihre Runden, schwenkt ihre Plakate und fordert die umstehende Menge auf, sich anzuschließen. Der Bürgermeister der südafrikanischen Stadt Uitenhage, ein kaum vierzigjähriger ehemaliger Gewerkschafter, den hier alle nur bei seinem im Kampf gegen die Apartheid erworbenen Spitznamen „Bicks“ rufen, sieht die Menschenmenge auf dem Marktplatz, ihre Transparente und Protestparolen mit Unbehagen.
Dieser 15. Mai 2000 ist ein bitterer Tag für „Bicks“ und all die anderen, die sich plötzlich an den Pranger gestellt sehen als „Handlanger des Kapitals“, als Verräter an den Rechten der Arbeiter. Etwas abseits stehen unten auf dem Marktplatz einige Shopstewards (Vertrauensleute) von Volkswagen/Uitenhage mit Funktionären der südafrikanischen Metallgewerkschaft Numsa zusammen und warten darauf, dass die Polizei den Weg in den großen Rathaussaal freigibt.
Mit einiger Verspätung ist es endlich so weit. Einzeln passieren die Menschen eine elektronische Schleuse und lassen sich vom Wachpersonal auf Waffen abtasten. Oben auf der Bühne beginnt die im südafrikanischen Arbeitsrecht vorgesehene Vermittlungskommission mit der Verhandlung, auf die hier alle warten: der Bürgermeister, die Demonstranten auf dem Marktplatz, die Gewerkschafter und Betriebsfunktionäre und ein Dutzend Journalisten der regionalen und überregionalen südafrikanischen Presse.
Der Saal fasst rund 450 Leute und ist bis auf den letzten Platz besetzt, als Richter Brandt die Verhandlung eröffnet. Er soll feststellen, ob Volkswagen/Südafrika, der größte und wichtigste Arbeitgeber der Region, im Januar dieses Jahres rund 1.300 Arbeiter entlassen durfte, die nach zweiwöchigem Streik ein Ultimatum zur Rückkehr an den Arbeitsplatz missachtet hatten. Die amtierenden Vertrauensleute von Volkswagen und die Gewerkschaftsvertreter der Numsa hoffen ebenso wie „Bicks“ Ndoni, der Bürgermeister, dass die Streikenden sich bei der Verhandlung nicht durchsetzen werden . . .
Auch Hans-Jürgen Uhl, der in der Wolfsburger Konzernzentrale amtierende Generalsekretär des VW-Weltkonzern-Betriebsrats, setzt auf eine Entscheidung zugungsten des Unternehmens. Er ist im Januar gemeinsam mit Helmuth Schuster, dem Chef des Zentralen Personalwesens im Volkswagen-Konzern, nach Südafrika geflogen, um in einer verfahrenen Situation zu schlichten. Aber die beiden Emissäre aus Wolfsburg hatten ebenso wenig Erfolg wie alle anderen direkt oder indirekt an dem Konflikt Beteiligten.
Uhl kennt sie fast alle. Viele Jahre hat er sich für seine Gewerkschaftskollegen in Uitenhage engagiert. Nun muss er befremdet feststellen, dass er die tiefsten Beweggründe der Auseinandersetzung unter den Shopstewards im südafrikanischen Volkwagenwerk nicht mehr versteht. Aus Südafrika kommt die Nachricht, Richter Brandt habe die Verhandlung nach fünf Tagen Dauer unterbrochen und auf August vertagt – eine unverhoffte Denkpause für die Kontrahenten. Hans-Jürgen Uhl bezweifelt, dass es jetzt noch einen außergerichtlichen Kompromiss geben kann.
Für Boninsile James Mzeku, einen der Wortführer der entlassenen Arbeiter, ist die Sache klar: „Volkswagen will sich der oppositionellen Arbeiter entledigen“, und die Gewerkschaft leistet dabei Schützenhilfe. „Numsa hat die Arbeiter an das Management verkauft“, heißt es auf den Plakaten der Ocgawu, einer außerhalb des gewerkschaftlichen Dachverbandes Cosatu agierenden Gruppierung, der viele der Entlassenen inzwischen beigetreten sind und die offensichtlich unter trotzkistischem Einfluss steht.
Die seit Jahren schwelenden Richtungskämpfe unter den Shopstewards des südafrikanischen Volkswagenwerks hatten sich im vorigen Jahr zugespitzt. Der Konzern hatte entschieden, den südafrikanischen Standort durch die Produktion des rechtslenkenden Golf A 4 zu stärken. Die Herstellung dieses überwiegend für den Export nach England vorgesehenen Modells brachte rund tausend zusätzliche Arbeitsplätze in die von fünfzigprozentiger Arbeitslosigkeit gebeutelte Region um Port Elizabeth-Uitenhage – aber dauerhaft nur unter der Voraussetzung, dass das Werk nach Produktivität und Qualität Weltmarktniveau erreicht.
Die Mehrheit der 32 gewählten Vertrauensleute war bereit, mit dem Management über flexiblere Arbeitszeiten, elastische Urlaubsregelungen und Ähnliches zu verhandeln. Eine Minderheit von dreizehn Vertrauensleuten um Mzeku konnte diesen „Verrat an den hart erkämpften Rechten der Arbeiter“ nicht akzeptieren und mobilisierte außerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen mit „Spontanstreiks“ und anderen Aktionen. In einzelnen Fällen wurden Arbeiter durch Gewalt beziehungsweise deren Androhung eingeschüchtert. Ein Brandanschlag auf das Haus eines zur Mehrheit gehörenden Vertrauensmanns blieb vorerst ohne Erfolg.
Als die Numsa im Januar die dreizehn oppositionellen Vertrauensleute ausschloss, antworteten diese mit Streik. Mit Stöcken, Messern und massiver Einschüchterung seien sie und ihre Anhänger durch die Werkshallen gezogen und hätten die Arbeiter auf den Hof getrieben. Das berichtet die Mehrheit, und um diese Schilderungen zu untermauern, zieht einer der Vertrauensleute das Hosenbein hoch: Sein Unterschenkel ist von oben bis unten von einer Brandwunde gezeichnet, die er zwei Monate nach dem „wilden Streik“ bei einem zweiten Brandanschlag auf sein Haus in der Township davongetragen hat. Er wurde mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert und konnte erst nach zwei Monaten entlassen werden.
Die Täter sind nach wie vor unbekannt. Aber Bürgermeister „Bick“ Ndoni ist überzeugt davon, dass es einen Zusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen bei VW und Gewaltaktionen in den Townships von Uitenhage gibt: „VW ist der Kern des Problems hinsichtlich der Disziplinlosigkeit innerhalb der Gemeinde.“ Die gut organisierten Gewerkschafter von VW haben schon immer eine große Rolle innerhalb der Kommunalpolitik von Uitenhage gespielt. Deshalb, so Ndoni, zielten die Dissidenten nicht nur auf die Verhältnisse im Betrieb. Es gehe um eine Destabilisierung in der Gemeinde, um für die Opposition bessere Voraussetzungen bei der im Herbst anstehenden Kommunalwahl zu schaffen.
Hans-Jürgen Uhl und Klaus Volkert, der Generalsekretär und der Präsident des Volkswagen-Weltkonzern-Betriebsrats, residieren in einem weitläufigen Bürotrakt, Sektion 18, vierter Stock im Wolfsburger Stammwerk. Die beiden Spitzenfunktionäre haben in den vergangenen Jahren zielstrebig daran gearbeitet, die Arbeitnehmervertretung bei Volkswagen auf den Stand zu bringen, der einem global agierenden Unternehmens entspricht.
Dabei kam ihnen jene spezifische Unternehmensphilosophie der „kooperativen Konfliktbewältigung“ entgegen, die sich im Volkswagen-Konzern über Jahrzehnte entwickelt und zu einer unter allen Weltkonzernen einzigartigen Unternehmensverfassung geführt hat. Kernpunkt ist eine für alle 42 Konzernstandorte der Welt geltende Selbstverpflichtung auf einen partnerschaftlichen Interessenausgleich mit den Beschäftigten.
Die beiden können im Unternehmen viel bewegen, auch im Interesse der ausländischen Standorte. Als Ende der Neunzigerjahre aufgrund der Asien- und Südamerikakrise die Beschäftigung im brasilianischen Hauptwerk Anchieta/São Bernardo (etwa 18.000 Beschäftigte) abzustürzen drohte, unterstützte Volkert die brasilianischen Kollegen bei ihren Verhandlungen mit dem Management vor Ort. Es wurde eine Regelung ähnlich dem Wolfsburger „Bündnis für Arbeit“ ausgehandelt – ein Paket aus Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, Flexibilisierung und Beschäftigungsgarantie.
Mario Barbosa, für Volkswagen zuständiger Gewerkschafter und Südamerika-Koordinator des Weltkonzernbetriebsrats, räumt ein, dass es bei den Kollegen zunächst Widerstände gegen diese Regelung gegeben habe, insbesondere gegen den eingeschränkten Lohnausgleich. Letztlich aber habe sich das Interesse an Arbeitsplatzsicherheit durchgesetzt. „Kein brasilianischer Volkswagen-Arbeiter hat während der Krise seinen Arbeitsplatz verloren“, betont er.
Er weiß, wie die anderen Multis in der Industrieregion von São Paulo agiert haben: nach dem Prinzip hire and fire. Er ist überzeugt davon, dass es für die Beschäftigten nur eine Antwort auf die Globalisierung der Konzerne geben kann: eine Globalisierung von unten, eine internationale Vernetzung der Belegschaftsvertretungen. „Wir müssen die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten überwinden, über alle Grenzen hinweg“, meint Barbosa, der schon unter der Militärdiktatur für eine freie Gewerkschaftsbewegung in Brasilien gekämpft hat.
Was in Brasilien gelungen ist, eine internationale Kooperation der Arbeitnehmervertretungen zur Krisenbewältigung, ist in Südafrika vorerst gescheitert. „Wir haben wirklich alles versucht“, berichtet Hans-Jürgen Uhl über seine Gesprächs- und Vermittlungsversuche. Aber die Dissidenten hätten sich geweigert, mit ihm und Konzernpersonalchef Schuster überhaupt zu reden. „Und dabei dachte ich bei einigen von denen, es wäre über die Jahre so etwas wie Freundschaft entstanden.“ Er ist enttäuscht und verbittert, denn die Unterstützung der südafrikanischen Gewerkschaftsbewegung war ihm, schon lange bevor das Apartheidsystem kapitulierte, eine Herzensangelegenheit.
Nun musste er erleben, wie sich die südafrikanischen Kollegen in ihren Streitigkeiten zerfleischten, wie wenig belastbar die demokratischen Strukturen innerhalb der betrieblichen Gewerkschaftsorganisation waren. Uhl wusste nur zu gut: Wenn es nicht gelang, das Werk schnell zu befrieden und geordnete Arbeitsbeziehungen wieder herzustellen, stünde langfristig die Zukunft des Standorts zur Disposition.
So gab er seinen Segen zu jenem harten Ultimatum des Managements, dem rund 1.300 Arbeiter zum Opfer fielen: Wer bis zum 3. Februar seine Arbeit nicht wieder aufnimmt, wird entlassen. Auch Bürgermeister „Bicks“ Ndoni und die örtlichen Gewerkschafter von Numsa und dem Dachverband Cosatu sahen keinen anderen Weg, den nach südafrikanischem Arbeitsrecht und nach den gewerkschaftlichen Satzungsbestimmungen illegalen Streik zu brechen.
Später spricht Uhl in seinem Wolfsburger Büro davon, dass nach den Wahlen von 1994 viele fähige Gewerkschafter in die Politik abgewandert seien. „Dieser Aderlass hat die gewerkschaftlichen Strukturen geschwächt.“ Andere würden noch heute so wie zur Zeit der Apartheid agieren. Es gebe einen Mangel an demokratischer Kultur in den Gewerkschaften wie in der Gesellschaft Südafrikas. Deshalb habe der Konflikt so außer Kontrolle geraten können.
Er hofft, dass die Entscheidung des Konzerns vor der Vermittlungskommission Bestand haben wird. Sollte Richter Brandt sich anders entscheiden, sieht er schwierige Zeiten auf das Werk Uitenhage zukommen: Die Entlassenen kämen wieder in den Betrieb, was zur Folge hätte, dass die neu eingestellten Arbeiter wieder zurück auf die Straße gesetzt werden müssten. Die Unruhe im Betrieb und in der Kommune würde neu angefacht. Bevor das passiert, wird Volkswagen nach den Worten des Personalchefs Brian K. Smith alle Rechtsmittel ausschöpfen.
Uhl ist überzeugt, dass es nicht so kommen wird. Jetzt sei es notwendig, die gewerkschaftlichen Strukturen im südafrikanischen Volkswagenwerk zu stabilisieren. Das sei wichtig für den Standort Südafrika, aber auch für die zukünftige Arbeit des Weltbetriebsrats. Denn „wenn es vor Ort nicht stimmt, kommen auch wir an unsere Grenzen“. Auch ein Weltbetriebsrat kommt nicht ohne Basis aus.
MARTIN KEMPE, Jahrgang 1943, freier Journalist und Autor mehrerer Bücher, war bis 1990 taz-Redakteur für Gewerkschaftspolitik. Er hat im Mai 1999 Südafrika besucht, zusammen mit CORDULA KROPKE, Jahrgang 1969, Mitarbeiterin der Hamburger Agentur Argus und spezialisiert auf Themen aus Afrika und Brasilien
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