: Neue Heimat Sprache
Goldene Zeiten für Literatur (XIV und Schluss): Nach dem Abschied von den Kriegsteilnehmern
■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur:Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen
von DETLEF KUHLBRODT
„Ich kenne dieses Buch nicht. Ich kenne auch den Autor nicht. [ . ..] Soll einer dieser wenigen grandiosen Autoren sein. Aber davon gibt es inzwischen auch schon wieder Tausende.“ (Benjamin Lebert; „Crazy“)
Oft sprachen wir über Benjamin von Stuckrad-Barre. Auf einem Foto in der Zeit, wo er neben Christian Kracht abgebildet war, sah der erfolgreiche Popschriftsteller aus wie ein arroganter Junker. Besser: Er sah so aus wie die dynamischen Klischee-Neue-Mitte-Menschen, mit denen die Berliner Volksbühne eine Weile ironisch für sich Reklame gemacht hatte. Der dazugehörige Artikel von Feridun Zaimoglu, dessen Buch „Abschaum“ demnächst in die Kinos kommt, legte jedenfalls auf einleuchtende Weise dar, dass es sich bei dem Autor und seinen Freunden um „Popposer“ und konformistische Angeber handele, die sich nur für sich selbst und ihr hübsch inszeniertes Bild interessieren und sich über die Denunziation von Langzeitstudenten, Feministinnen mit Lavalampe, altlinken Hippies und Buchhändlerinnen zu profilieren suchten. Das ist sehr unsympathisch, zumal: Wenn jemand in Sachen neuer Literatur kompetent ist, so sind es die Buchhändlerinnen.
Andererseits sind Stuckrad-Barre und Zaimoglu, der Kanakattackler, gar nicht so wahnsinnig weit voneinander entfernt. Beide schreiben einfach zu lesende Texte. Beide stehen in der Popabteilung. Der eine unter Pop, der andere unter Beat, Rap oder Rock ’n’ Roll. Zaimoglus Text in der gerade erschienenenAnthologie „Morgenland“ ist Rap; „Abschaum“, die Geschichte eines türkischen Kleinkriminellen, ist klassischer Rock ’n’ Roll mit allen Drogen, Posen, Schlägereien und Sexualitäten, die dazu gehören. Der Unterschied liegt darin, dass Benjamin von Stuckrad-Barre usw. aus der Neuen Mitte in einer Sprache sprechen, in der sie zu Hause sind, während Zaimoglu und andere Kanakattackler vom Rand der Gesellschaft kommen und sich ihre eigene, minoritäre Sprache erst erkämpfen mussten. Die Sprache der einen ist angenehm, kontrolliert und pflegeleicht; die der anderen eher so triebhaft nach vorne drängend.
Dass das ein Klischee ist, mit dem jeder deutsche HipHopper seine Alben verkaufen möchte – ich bin echt, ich spiele nicht –, soll hier nicht weiter stören. Die minoritäre Sprache von Zaimoglu und seinen Kollegen scheint mir jedenfalls mit den deutschen Schriftstellern verwandt, die vor dreißig Jahren als erste offensiv Elemente der Popkultur in ihren Büchern verwandten. Also: Rolf Dieter Brinkmann, der junge Achternbusch, später Bernward Vesper, später Elfriede Jelinek, Rainald Goetz.
Wenn über neue (west!-)deutsche Literatur gesprochen werden soll, wenn richtig gesagt wird, dass die Leute heute „besser“ oder lockerer schreiben und vermutlich auch sind als früher, dürfen die nicht fehlen. Nicht so sehr als geistesverwandte Vorläufer, was sie in gewisser Weise auch sind, sondern um Unterschiede deutlich zu machen. Es ist ja nicht das Verdienst der jüngeren westdeutschen Schriftsteller, dass sie so unterhaltsam mit ihrer Sprache umgehen können; es hat in erster Linie mit der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu tun oder: Die neue deutsche Schreibergeneration ist die erste, deren Eltern nicht mehr im Krieg waren.
In „Ghosts“, seinem Buch zum „Deutschen Herbst“, beschreibt Klaus Theweleit sehr einleuchtend eine existenzielle Grunderfahrung der 68er: Sie wuchsen in einer Welt auf, deren Sprache im „Dritten Reich“ kaputtgegangen war. Die Sprache der Eltern sei nur Erpressung, Befehl und Schweigen gewesen, die Elternvergangenheit keine Erzählung, sondern nur Mittel des kleinfamiliären Terrors. „Ich erinnere mich nicht, bis dreißig einen Satz zu einem Erwachsenen ohne Erröten oder Stottern gesprochen zu haben.“ Authentische Sprachen seien erst mit dem Rock ’n’ Roll gekommen. Popkultur (und die jüdischen Slangs: Marxismus und Psychoanalyse) war keine Stilfrage, sondern ein Mittel, der kaputten und kaputtmachenden Sprache der Eltern zu entkommen.
Diesen Kampf um eine eigene Sprache – mit allen Intensitätsvorteilen und ästhetischen Nachteilen – spürt man in vielen Büchern, die Ende der 60er, Anfang der 70er erschienen: beim frühen Handke, bei Brinkmann, Achternbusch und am deutlichsten vielleicht in Bernward Vespers einzigem Roman „Die Reise“, der den Zusammenhang von desavouierter (entemotionalisierter) Eltern- = Nazisprache und das Ausbrechen in andere Sprachen direkt thematisiert; der vom scheiternden Versuch erzählt, ein anderer zu werden, die inneren (immer sprachlichen) Zwangssysteme mit den damals üblichen Mitteln (Drogen, Reisen, linksradikale Politik) zu überwinden. Wie viele andere der 68er-Generation überlebte Vesper diesen Konflikt nicht.
Ich denke, dass große Teile der „Nazikinderliteratur“ von dem oben geschilderten Konflikt gezeichnet sind; dass ihre Wahrhaftigkeit darin besteht, in diesem Konflikt zu schreiben, ohne eigentlich erzählen zu können – wie Rainald Goetz, der sozusagen das hysterische Bindeglied zwischen der neuen und der alten „Popliteratur“ ist und allmählich ja auch so ins Erzählen kommt.
Diverse, lange Zeit übliche Haltungen gegenüber der deutschen Sprache kann man, denke ich, auf dies Nazikindersyndrom zurückführen: das extrem weit verbreitete Misstrauen gegenüber elaborierten, bürgerlichen Codes und dem so genannten Establishment, die Post-68er-Slangs, die bis in die taz hineinwirkten, die Unfähigkeit, überhaupt zu erzählen, von der die westdeutsche Literatur bis vor kurzem gezeichnet war, das leidende Autoren-Ich, das so oft als wehleidig denunziert wurde; auch das sozusagen Umgekehrte: der hinter seiner Lustigkeit eigentlich unglaublich aggressive Nihilismus von Eckhard Henscheid, der zahlreiche Autoren mehr (Wiglaf Droste) oder weniger (Thomas Meinecke) beeinflusste.
Die neue Autorengeneration ist zwei Generationen entfernt vom „Dritten Reich“. Deshalb sind die Autoren nicht mehr so kaputt wie die Älteren, deshalb sind ihre Bücher nicht mehr Zeugnisse misslungener oder gelungener Emanzipationsprozesse, deshalb können sie besser erzählen, und deshalb werden sie auch so begeistert begrüßt. Als Zeichen der Normalität. Endlich gibt es in Deutschland Autoren, die schreiben wie in anderen Ländern auch, endlich Autoren, die sich als Popstars vermarkten lassen. In Deutschland waren unterhaltsame Popromane mit Slackerhelden Mitte zwanzig bislang eher Mangelware gewesen. Schön, dass es sie nun gibt und auch so viele Leute aus der Mittelklasse – mit Pophintergrund und unklaren Berufsaussichten –, die sich darin wieder erkennen und in letzter Zeit plötzlich angefangen haben, im propagierten Nachtleben mit propagierten Drogen über neue Literatur zu reden. Blöd nur, dass manches so klingt wie eine Fortsetzung der offiziellen Berlin-Werbung und immer mehr Yuppie-Deppen in der Nacht am Tresen stehen. Wunderbar, dass es so ein schönes zeitloses Buch über die Teenagerzeit gibt wie das des 18-jährigen Benjamin Lebert, der nicht ganz hier reinpasst, weil er – nun ja – so verletzlich und warmherzig rüberkommt und den Leuten nicht vorschreiben möchte, was sie kaufen und mögen müssen, um prima zu sein.
Früher musste man bei Lesungen oft plötzlich so pubertär kichern, weil einem das alles so weihevoll erschien; inzwischen kichert man oft über dieses bemüht Popmäßige, wenn Kathrin Röggla etwa sagt, sie wolle nun „einen Indoor- und Outdoortext“ vorstellen. Oder man macht das Fernsehen an, und Alexa Hennig von Lange ist schon wieder drin wie gestern schon in der B.Z. Es geht darum, wie es ist, ohne Höschen in der Jeans rumzurennen. Fühlt sich bestimmt prima an, um einen der häufigsten Sätze der letzten Jahre zu zitieren.
Es ist davon auszugehen, dass Harald Schmidt ihr Buch nicht selbst gelesen hat, sondern hat lesen lassen. Das läuft vermutlich so ähnlich wie bei dem Münchner Schriftsteller Andreas Neumeister. In seinem Buch „Gut laut“ träumt er von ein paar Klonen von sich, die das für ihn erledigen, was er selber nicht schafft: einen Zeitungsklon für all die Zeitungen, einen Klon fürs tolle Fernsehprogramm usw. Das leuchtete mir unmittelbar ein: Es gibt so viele Dinge, die man wahrnehmen möchte, ohne an ihnen persönlich teilnehmen zu müssen. Es wäre schön, wenn das ein Klon erledigen könnte. Den Klon könnte man sich als eine völlig passive Abspaltung von einem selber vorstellen. Weil man sich leider nicht so schön aufspalten kann, sondern gezwungen ist, zu leben, wie man sich fühlt, gibt es Medien, die einem gestatten, durch die Sinne anderer auf die Welt zu schauen. Die ausgesprochen subjektive Wahrnehmung des anderen scheint eher den Wahrheitsansprüchen Genüge tun zu können als sich objektiv gerierende Formen in der individualisierten Gesellschaft. Deshalb boomen zurzeit die subjektiven Formen – im Alltag (Internetchats, E-Mails, Handys; tausend private Homepages mit Tagebüchern), in der Kunst, in der Literatur und in der Zeitung.
Schön an der Post-89er-Literatur ist ja auch, dass sie aktueller, journalistischer und damit auch dialogischer geworden ist. Es ist kein Nachteil, wenn viele dieser tagesbegleitenden Texte keine Dauer haben werden; Texte, die auf Dauer aus sind, sind zu unbeweglich, um das Jetzt zu erfassen. Es machte unglaublich viel Spaß, das Internettagebuch „Abfall für alle“ von Rainald Goetz jeden Tag anzuklicken und seine Erfahrungen mit den eigenen abzugleichen; manchmal kam man sich allerdings auch komisch dabei vor, wenn man daran dachte, dass man selber so was Ähnliches ja auch ständig privat oder in der taz macht und dass solche kleinen feuilletonistischen Formen plötzlich groß abgefeiert werden, wenn Literatur drübersteht. So ähnlich fühlt man sich auch manchmal als tazler, wenn die Berlin-Seiten der FAZ gelobt werden, die letztlich nichts anderes sind als eine teuere Neuauflage der früheren taz-Berlin-Kultur.
„Immer auf der Suche nach Formen des Schreibens, näher dran am Leben, als die Schrift von sich aus, freiwillig, automatisch sein möchte. Auch auf der Suche nach einem Buch, das man eigentlich nicht mehr lesen muss. Das einfach so rumliegt, in dem man ein bisschen blättert, das einen angenehm anweht, fertig“, schreibt Rainald Goetz. Darüber könnte man Seiten schreiben. Es erklärt sich allerdings auch so. Mein Lieblingspopbuch ist eigentlich die „Autobigophonie“ der Sängerin Françoise Cactus, die wohl zu früh (1996) erschien, um angemessen gehypet zu werden.
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