: Weh dem, der Symbole sieht
DAS SCHLAGLOCHvon MICHAEL RUTSCHKY
„Ein Metallstück auf der Startbahn hat offenbar einen Reifen der Concorde platzen lassen und so die Katastrophe von Paris ausgelöst. Das Büro für Unfallermittlung (BEA) teilte am Donnerstag mit, der bei hoher Geschwindigkeit auseinander fliegende Reifen habe vermutlich mindestens vier Kilo schwere Teile losgerissen, die zu regelrechten Geschossen geworden seien und einen oder mehrere Tanks in der linken Tragfläche durchschlugen. Eine große Menge Kerosin lief aus, das sich entzündete. Die Herkunft des etwa 40 Zentimeter langen Metallstücks ist unklar.“
„Der Tagesspiegel“,
11. August 2000
Die Erzählung muss also in der Hauptsache umgruppiert werden. Nicht das Riesenflugzeug ist abgestürzt und hat dabei über 100 Menschen ums Leben gebracht; vielmehr hat ein Trivialgegenstand, zufällig im Wege, eine Art Kettenreaktion ausgelöst, an deren Ende der Flugzeugabsturz zu finden ist. Wer den Vorwurf des Zynismus, wenigstens der Geschmacklosigkeit nicht scheut, darf an die kurios-katastrophalen Abläufe denken, mit denen das Schweizer Künstlerduo Fischli-Weiss sein Publikum erfreute.
Indem die Erzählung die Unglücksursache aus dem Großflugzeug heraus in ein Metallteil von 40 Zentimetern verlagern muss, stürzt der Symbolwert der Katastrophe in sich zusammen. Derselbe Unglücksablauf hätte vermutlich zahllose Flugzeugtypen ereilen können; auch Autos auf der Straße dürften kaum gefeit sein. Erinnerungen an die hypertrophen Ideen des General de Gaulle, betreffend Frankreichs gloire, erübrigen sich ebenso wie das technikkritische Lamento der üblichen Verdächtigen – dass die Luftfahrt überhaupt eingestellt werde, das zu fordern hat freilich niemand mehr, soweit ich sehe, den Concorde-Absturz zum Anlass genommen. Bloß die Anzahl der Flugphobiker soll sich kurzfristig vergrößert haben.
Der Concorde-Absturz stellt also auf der Ebene der Wirklichkeit ein Unglück dar, das sich einer bösartigen Verkettung von Zufällen verdankt. Deshalb lässt sich gut studieren, wie man auf der Ebene des Symbolischen was draus macht: Die überkomplexe technische Zivilisation demonstriere uns ihre Unbeherrschbarkeit – warum muss der Mensch immer schneller von Kontinent zu Kontinent jetten, statt friedlich im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren – oder so ähnlich.
Der amerikanische Meistersoziologe Erving Goffman – die ironische Ausgabe des tragischen Franzosen Michel Foucault – hat solche Verfahren, wie aus wirklichen Ereignissen hochsymbolische Mitteilungen werden, mit Gusto auseinander gelegt. Er nennt den zwischen Wirklichkeit und Symbolik spielenden Vorgang „modulieren“; bestehe ich auf der schrecklichen Zufälligkeit des Concorde-Unglücks, habe ich es in Richtung Wirklichkeit heruntermoduliert, hier sind die Abgestürzten unwiederbringlich tot, während sie, wenn ich das Unglück hochmoduliere, Opfer von Präsident De Gaulles Größenideen oder der Größenideen unserer Gesellschaft überhaupt sind – und so weiter. Auf der Ebene der Wirklichkeit haben die Hinterbliebenen ihre Toten zu betrauern; auf der Ebene des Symbolischen haben wir einem Schauspiel beigewohnt, das einen hohen Sinn enthüllt.
Klingt kompliziert, ist aber recht einfach. Andauernd ist man schon im Alltagsleben mit dem Hoch- oder Heruntermodulieren des Sinns befasst. Was für den einen bloß schlechte Laune ist, zeigt dem anderen eine ganze verfehlte Lebensgeschichte an. Wer sich den Magen verdorben hat, hält ab jetzt alle Speisen für ungenießbar – und so fort.
Aber die höchste Meisterschaft im Hochmodulieren des Sinns, der einem Ereignis zukomme, muss natürlich die große Medienerzählung jeden Tag neu beweisen. Das wäre ein schönes Buchprojekt: Die Sammlung und Beschreibung der katastrophenartigen Fälle und Ereignisse, anhand deren in den vergangenen – nein, sagen wir: dreißig Jahren der Zustand der Weltzivilisation oder wenigstens Deutschlands symbolisch gedeutet, also hochmoduliert worden ist – das erfordert eine Coolness, die den Vorwurf der Geschmacklosigkeit, womöglich des Zynismus nicht scheut.
Vor dem Concorde-Unglück belehrte uns das ICE-Unglück bei Eschede über die Schrecken der Risikogesellschaft; die Neigung gewisser krimineller Kreise zu so genannten Kampfhunden enthüllt die immer währende, wenn nicht zunehmende Gewalttätigkeit unserer Gesellschaft, die sich bei den Neonazis noch mit der schaurigen deutschen Vergangenheit und ihren Symbolen verknüpft. Einen besonderen Triumph sucht hier das Hochmodulieren in der Behauptung, die widerlichen Kerle (und Mädel) kämen keineswegs vom Rand, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, ja sie verkörperten deren uneingestandenen Basiskonsens.
Der Effekt des Hochmodulierens wird deutlich sein: Das Ereignis enthüllt einen hohen Sinn, das Publikum schaudert oder empört sich oder verfällt in demonstrative Nachdenklichkeit. Damit tritt aber auch der schwere Nachteil des Hochmodulierens zutage: Man kann nix mehr machen. Wenn der Concorde-Absturz das Tragisch-Hybride der Weltzivilisation enthüllt, sind alle Maßnahmen zur Verbesserung der Flugsicherheit eitel. Wenn die rechten Schläger den Kern auch noch des gegenwärtigen Deutschtums verkörpern, wie soll man da die Polizei- und Gerichtsbarkeit zu intensivieren fordern? Wenn sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder „letztlich gesamtgesellschaftsbedingt“ ist, wie eine inzwischen angestaubte Hochmodulierung predigte, sind alle Gegenmaßnahmen aussichtslos, und es bleibt Frauen und Kindern nur die Reservierung von Zimmern im Grand Hotel Abgrund der späten Frankfurter Schule.
Der Autor meines Katastrophenbuches dürfte natürlich die grandiosen, gleichsam antiken Präfigurationen keinesfalls auslassen. So dürfte der Concorde-Absturz ebenso wie Eschede im Untergang der „Titanic“ präfiguriert sein, der angeblich schon 1912 nichts weniger als Europas nahen Untergang anzeigte, eine vertrackte Deutung, denn ein Eisberg ist doch noch was anderes als ein manisch-depressiver Kaiser mit verkrüppeltem Arm, oder?
Vermutlich beginnt die ganze Reihe bei einer Katastrophe, die sich tatsächlich vollkommen unabhängig von menschlichen Maßnahmen und Gegenmaßnahmen abrollte: dem Erdbeben, das am 1. November 1755 die portugiesische Stadt Lissabon planierte und 60.000 Menschen ums Leben brachte. Das Erdbeben hat Literatur und Philosophie der Zeit unendlich beschäftigt; den Optimismus der Aufklärung, der neuen Technologien, der merkantilistischen Ökonomie, so sagt man, beschädigte das krude Naturgeschehen, für das kein Mensch Verantwortung trug, gründlich. Und mein Katastrophenbuch würde argumentieren, dass seitdem der Fatalismus, dass alles kommt, wie es kommt, dem hohen Sinn, den die hochmodulierten Deutungen jedwedem schrecklichen Ereignis abgewinnen, untrennbar beigemischt ist.
Hinweise:Auf der Ebene der Wirklichkeit haben die Hinterbliebenen ihre Opfer zu betrauernSymbolisch gesehen, haben wir ein Schauspiel erlebt, das einen hohen Sinn enthüllt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen