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Kein Land des Lächelns für Al Gore

Eine glanzvolle Parteitagsinszenierung bringt Al Gores Wahlkampf auf den Weg. Die Wähler für sich und sein Programm einzunehmen wird schwer

aus Los AngelesPETER TAUTFEST

Das alles ist Al Gore – und noch viel mehr: „Ein Mann von Mut und Überzeugungen. Er glaubt an die Arbeit für Amerika. Er diente in Vietnam. Zusammen haben wir über die Parteigrenzen hinweg für den Golfkrieg geworben. Ich war dabei, als er mit Nachdruck darauf hinwies, dass in Bosnien und im Kosovo auch amerikanische Prinzipien und Interessen auf dem Spiel standen.“ So stellte Joseph Lieberman, der von Gore auserkorene Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten vor. Dass Gore auch hoch intelligent, analytisch begabt, diszipliniert, fleißig und persönlich untadelig ist, brauchte er gar nicht hinzuzufügen. Das gehört untrennbar zu dessen Image.

Gore war acht Jahre lang der aktivste und sichtbarste Vizepräsident der US-Geschichte – und stand doch im Schatten des charismatischen Bill Clinton. Denn der Hoffnungsträger gilt auch als hölzerner Redner und kann kaum eine emotionale Beziehung zum Wahlvolk herstellen. Das ist sein größtes Handicap gegenüber dem republikanischen Konkurrenten George W. Bush. Die ganze Inszenierung des Parteikonvents in Los Angeles zielt darauf ab, dieses Image zu ändern; zunächst mit einem wohl geplanten „spontanen“ Auftritt zusammen mit seiner Tochter, dann mit dem Höhe- und Schlusspunkt des Treffens: Gores Grundsatzrede, die er gestern Abend kalifornischer Zeit (Freitagmorgen MEZ) halten sollte. Zwei Monate habe er am Text gefeilt, sagte er, und er wolle seine Person und seine Vision für die Zukunft in den Mitttelpunkt stellen. Von der Signalwirkung dieser Rede könnte die Chance seiner ganzen Kampagne abhängen.

Unzweifelhaft ist ein Schwerpunkt von Rede und Wahlkampagne die Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit Amerikas. Die Probleme des Landes können Al Gore und die Delegierten vor Ort studieren. 43 Prozent der Angelenos oder etwas mehr als 4 Millionen leben in Armut. LA gilt als Hauptstadt der „Working Poor“, derer die arbeiten und doch arm sind. In der Stadt sind 80.000, im County 200.000 Menschen obdachlos.

Das Erbe Clintons besteht nämlich einerseits in einer noch nie da gewesenen Prosperität – andererseits hat der Boom einen das Land und die Bevölkerung gespalten. 54 Prozent der Bürger geben an, die Prosperität sei an ihnen vorbeigegangen. Sorgen haben nicht nur die Armen. Die Mehrheit der Amerikaner gibt an, dass der Balanceakt zwischen Beruf und Familie schwieriger geworden ist. Die größten Sorgen machen sich Mittelstandsamerikaner um die Erziehung ihrer Kinder sowie um ihre Kranken- und Rentenversicherung. Zwei Drittel rechnen damit, innerhalb der nächsten 10 Jahre sich um einen pflegebedürftigen Elternteil kümmern zu müssen – in Amerika gibt es keine allgemeine Pflegeversicherung, Kinderunterbringung ist rar, teuer und schlecht. Amerikas Pharmaindustrie nimmt der Welt höchste Preise für Medikamente. Viele Familien haben Geld für Medikamente oder Nahrungsmittel – nicht für beides. Das sind die Leute, die Gore im Wahlkampf erreichen muss.

„Unser Nachteil gegenüber den Republikanern“, sagt Senator Joseph Biden, „ist dass die Probleme kompliziert sind und dass die Beschreibung ihrer Lösungen sich nicht für Slogans eignen.“ Gore und die demokratische Partei haben für Renten- und Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Schulpolitik Programme und Lösungen entwickelt, die Lehren aus dem Scheitern der kühnen Pläne Clintons Anfang der 90er zu ziehen versuchen. Sein Problem: Für demokratische Stammwähler gehen sie nicht weit genug.

Vor dem Convention Center demonstrieren die Enkel derer, die Kennedy mit seiner Kandidatur 1960 in die Partei zog, und die Kinder der Vietnamkriegsgegner, die 1968 beim demokratischen Konvent in Chicago von der Polizei des demokratischen Bürgermeisters Daley zusammengeknüppelt wurden. Sie stehen heute im Widerspruch zu beiden großen Parteien, die wenig unternehmen um den Eindruck zu zerstreuen, ihre Parteitage seien etwas anderes als „Cash Orgien, also nichts anderes sind als noch ein weiteres Mittel, mit dem Konzerne politischen Einfluss kaufen“, so die New York Times. General Motors, AT&T und Microsoft spendeten je eine Million Dollar für jede der beiden Conventions. Die Demonstranten haben sich diesen Zusammenhang zum Thema gemacht. Sie paradieren als Bonzen mit Zylinder und Zigarre, die mit Dollarnoten um sich werfen. Die Delegierten, die oft selbst durch solche Bewegungen politisiert wurden, verstehen die Demonstranten nicht: „Wir sind doch die good guys“, sagte Jerry Martin, eine Delegierte aus Mississippi, die zu den Civil-Rights-Kämpferinnen der ersten Stunde gehörte. Die Polizei von Los Angeles tritt mit martialischer Arroganz auf. Sie hat mit Pferden und Gummigeschossen eine Kundgebung von etwa 10.000 Menschen auseinandergejagt und auf die fliehenden Menschen noch geschossen, als die sich vom Ort des Parteitags entfernten.

Die Demokraten haben nichts getan, um das Protestpotenzial für sich zu gewinnenund mögliche Stimmen vom grünen Kandidaten Ralph Nader abzuziehen. Unter dem Eindruck der Straßenproteste von Chicago gewannen 1968 Richard Nixon und die Republikaner die Wahl. Die Demokraten wollen sich an diese Gelegenheit nicht erinnern – sie beziehen sich auf den Konvent in Los Angeles von 1960, auf dem John F. Kennedy triumphierte und anschließend Präsident wurde.

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