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„Die Akten gehören uns“

taz-Serie „Zwischenzeiten“, Teil 5: Vor zehn Jahren wurde in Berlin-Lichtenberg die Stasi-Zentrale besetzt. Ohne die Aktion gäbe es heute keine Akteneinsicht und auch keine Gauck-Behörde

von WOLFRAM KEMPE

Der 4. September 1990 ist ein kalter und regnerischer Tag. Es nieselt, als am späten Vormittag vom Haupteingang Ruschestraße und vom Seiteneingang Normannenstraße her kleine Gruppen von Leuten auf den Hof der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit gehen.

Langsam und scheinbar unabhängig voneinander bewegen sich die Gruppen auf die hintere, rechte Ecke des Hofes zu. Dort ist der Eingang zum Haus VII, dem Bürotrakt des Zentralarchivs der Stasi, in dem die Personaldossiers von vier Millionen Ostdeutschen und zwei Millionen Westdeutschen lagern, die in den vergangenen 40 Jahren jemals das Interesse von Mielkes Spitzeltruppen erregt haben. In der dritten Etage des Hauses VII existiert eine große Stahltür, die den direkten Übergang vom Verwaltungstrakt zum Archiv erlaubt. Das wissen die, die sich da anschleichen, das ist ihr Ziel. Als sie nahe genug heran sind, laufen sie plötzlich auf den Eingang zu, überrennen die Posten davor, stürmen das Treppenhaus bis zur dritten Etage hinauf – und stehen vor der verschlossenen Stahltür.

Die Vorgeschichte

Nachdem die allgemeine Euphorie des Frühsommers, ausgelöst durch die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR und den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch die Deutsche Nationalmannschaft sich gelegt hatte, gewannen innenpolitische Themen wieder die Oberhand. Das wichtigste davon war die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, die vor allem durch Aktivitäten des damaligen DDR-Innenministers Peter-Michael Diestel (CDU) ins Stocken geraten war.

Als erstes wurden die Bürgerkomitees, die im Januar 1990 entstanden waren, so gut wie abgeschafft, dann die Regierungsbeauftragten aus der Zeit des Runden Tisches entlassen. Die Befugnisse des „Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS“ wurden weitgehend beschnitten, und am 17. Juli schließlich ließ Diestel auch noch den parlamentarischen Ausschüssen den Zugang zu den Stasi-Archiven sperren.

Gleichzeitig wurden immer wieder Mitarbeiter des Innenministeriums, des „neuen“ öffentlichen Dienstes, Mitglieder der Regierung und sogar Volkskammerabgeordnete als ehemalige Stasi-Leute enttarnt. Im Gegenzug machte die Bürgerbewegung unter dem Slogan „Meine Akten gehören mir!“ mobil und forderte, dass jeder, der es wünsche, Einsicht in seine Akte erhalten könne und selbst zu entscheiden habe, was mit dieser Akte in der Zukunft geschehen solle.

Vor diesem Hintergrund beschloss die Volkskammer am 24. August 1990 ein Gesetz, das den weiteren Umgang mit den Stasi-Akten regeln sollte. Vorgesehen war die Errichtung einer Institution, die heute als „Gauck-Behörde“ bekannt ist.

Nach dem Willen der Volkskammer sollte dieses Gesetz in die („Positiv“-)Liste der Rechtsvorschriften aufgenommen werden, die durch den Einigungsvertrag, der damals gerade in den Schlussverhandlungen stand, zu in der BRD fortwirkendem Recht werden sollten.

Die beiden Unterhändler des Einigungsvertrages, Günter Krause (CDU) für die DDR und Wolfgang Schäuble (CDU) für die BRD hatten diesen Volkskammerbeschluss jedoch schlicht vom Tisch gewischt. Westdeutsche Politiker aller Parteien, bereits damals von der so genannten „Schlussstrich“-Mentalität beseelt, hatten vielmehr vor, die personenbezogenen Stasi-Akten im Bundesarchiv in Koblenz zusammenzuführen und gemäß den Vorschriften des bundesdeutschen Archivgesetzes zu lagern – was nichts anderes bedeutet hätte, als sie für 30 Jahre wegzusperren.

Auf der anderen Seite hatte der Bundestag am 31. Mai 1990 ein neues Bundes-Verfassungsschutz-Gesetz beschlossen, das alle staatlichen Behörden der Bundesrepublik – also auch das Bundesarchiv – verpflichtete, den westdeutschen Geheimdiensten jede gewünschte Auskunft zu geben. Für die DDR-Bürger, die seit dem Herbst 1989 auf der Straße und an Runden Tischen für die ersatzlose Auflösung des MfS gestritten hatten, konnte dies nur bedeuten, dass ihre eigenen Akten ihnen selbst zwar für die nächsten 30 Jahre verborgen bleiben sollten, jeder Geheimdienst aber quasi in kollegialer Kontinuität darauf jedoch hätte zugreifen können. Da war das Maß voll.

Die Besetzung

Die rund 30 Aktivisten aus dem Neuen Forum, der Vereinigten Linken (VL), der Umweltbibliothek Berlin und der Operativen Gruppe im Staatlichen Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit – darunter Bärbel Bohley, Reinhard Schult und Ingrid Köppe – hatten ursprünglich vor, direkt zwischen den Aktenregalen zu kampieren und durch den tatsächlichen direkten Zugriff darauf Druck auf die Politik auszuüben.

Der Zeitpunkt der Aktion war insofern der letztmögliche, weil in den folgenden zwei Wochen die letzten Lesungen des korrekt „Staatsvertrag“ genannten Einigungsvertrages in der Volkskammer stattfinden sollten. Dabei war abzusehen, dass eine große Mehrheit der Parlamentarier dem Verhandlungsergebnis – und damit der Überstellung der Stasi-Akten nach Koblenz – zustimmen würde.

Mit der Besetzung der Stasi-Zentrale freilich platzten diese Blütenträume. Zunächst freilich sah alles ganz anders aus: Vor den mittlerweile aufgewachten Sicherheitskräften flüchten sich die Besetzer in den Bürotrakt der Archivverwaltung, brechen eine Tür auf und verbarrikadieren sich schließlich in Räumen, die als Abstellkammern für ausrangiertes Mobiliar benutzt werden. Transparente unter den Fenstern zum Hof enthüllen, was vor sich geht.

Auf dem Hof beziehen Einsatzbereitschaften des Innenministeriums Stellung. In der dritten Etage des Hauses VII kämpfen sich Polizisten mit Äxten durch die Barrikaden, die die Besetzer aus den eingelagerten Möbeln hinter jeder Tür errichtet haben. Es sind drei Barrikaden. Die Besetzer hocken hinter einer vierten Tür in einem Raum in der äußersten Ecke des Hauses und warten.

Als die Polizei die dritte Barrikade beseitigt hat und alle mit dem unmittelbaren Ende der Aktion rechnen, erscheint die Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl (CDU). An ihren Auftritt erinnern sich die Besetzer noch heute mit großer Heiterkeit: Es klopft zaghaft an der letzten Tür, und eine piepsige Stimme sagt: „Hier ist Bergmann-Pohl. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“

Das Eingreifen der Volkskammerpräsidentin, die damals zugleich amtierendes Staatsoberhaupt ist, vereitelt den Plan von Innenminister Diestel, das Ärgernis einer „Besetzung der Stasi-Zentrale“ gewaltsam zu beenden. Stattdessen beginnen Proteste ostdeutscher Politiker und Politikerinnen aller Parteien, die allesamt aber eher nichtssagend sind. Denn auf die von den Besetzern hartnäckig gestellte Frage, ob sie denn nun dem Einigungsvertrag in seiner ausgehandelten Form zustimmen wollen, antworten sie mit Ausflüchten.

Am vierten Tag kommentiert ein Teilnehmer die Situation so: „Für mich hat sich ein Kreis geschlossen. Unten im Eingang habe ich meine Bewacher aus Rummelsburg getroffen und ich bin in der Opposition. Die Welt ist wieder in Ordnung.“

Die öffentliche Debatte

Inzwischen hatte der Innenminister nämlich die Presse aussperren lassen. In die Etagen oberhalb und unterhalb der Besetzer wurden Sondereinsatztruppen der Polizei einquartiert, und kurzzeitig wurde sogar versucht, Parlamentariern polizeilich den Zugang zu verwehren.

Gleichzeitig errichteten Mitglieder der Umweltbibliothek vor dem Haupteingang der Stasizentrale eine Mahnwache, die alle Außenkontakte der Besetzer koordinierte. Die wiederum konnten sich – unter Bewachung – auf dem Hof der Stasizentrale bewegen, so dass die Besetzung mehr und mehr den Charakter eines selbst gewählten Gefängnisses annahm.

Trotzdem war es dem Sänger Wolf Biermann gelungen, sich am zweiten Tag der Aktion anzuschließen. Außerdem verfügte diese für die damalige Zeit über eine geradezu luxuriöse Ausstattung mit Fernseher, Funktelefon, Computer und Sprechfunk zur Mahnwache, so dass sie einerseits jeden Versuch einer Kontaktsperre unterlaufen, andererseits aber auch sehr genau verfolgen konnte, wie das Parlament mit ihren Forderungen umging, beispielsweise mit der Forderung nach Entlassung des Innenministers: Nur durch massive Einflussnahme auf die Geschäftsordnung der Volkskammer rettete de Maizière am 14. September Diestel den Hals. Die Fernsehübertragung der vierstündigen Debatte kommentierte einer der Besetzer mit den Worten: „Ist das hier immer noch Monty Python?“

Genau ließ sich die Frage zu keinem Zeitpunkt der Besetzung beantworten, weder was das Agieren des Parlamentes und seiner Mitglieder, noch was die Aktionen der Besetzer anging. Täglich wurden Fernsehpressekonferenzen abgehalten, zunächst am Haupttor zum Stasi-Komplex, später dann im ehemaligen Offizierskasino. Es gelang sogar, am 11. September in diesem Offizierskasino ein öffentliches Hearing mit Parlamentariern, interessierten Bürgern und Medien zu organisieren, das die unterschiedlichen Auffassungen zum Umgang mit den Stasi-Akten deutlich heraus arbeitete.

Seit dem 12. September versuchten die Besetzer den Druck auf die Politik zu erhöhen, indem sie in den Hungerstreik traten. Gleichzeitig traten die prominentesten unter ihnen quer durchs Land auf Podien oder in Talkshows auf. Die erzeugte Medienöffentlichkeit wiederum zog eine Welle der Solidarität nach sich.

In großen Städten und ganz kleinen Gemeinden überall in der DDR entstanden Mahnwachen, kistenweise schleppte die Post Briefe und Telegramme in die Normannenstraße. Die Besuche von westdeutschen Politikern der Grünen und der SPD wurden fast zur täglichen Routine. Und gleichzeitig liefen nachts in den Kellern desselben Gebäudes die Papiermühlen, in denen fleißig die Akten vernichtet wurden, die man vier Etagen höher sichern wollte. Das merkten die Besetzer aber erst nach ungefähr 10 Tagen.

Der Erfolg

Trotzdem verstärkte sich bei den Besetzern der Eindruck, dass mit der fortschreitenden Institutionalisierung der Aktion ihre Wirksamkeit verflachte. Zwar wurde das Verhandlungspaket zum Einigungsvertrag noch einmal aufgeschnürt; die Verabschiedung dieses Vertrages geriet jedoch erstmals ernsthaft in Gefahr, als die Volkskammerabgeordneten, die zwischen Oktober und Dezember 1990 in den Bundestag kooptiert werden sollten, erfuhren, dass sie für diese Zeit geringere Diäten als ihre westdeutschen Kollegen erhalten sollten.

Am 20. September fand die letzte Lesung des Einigungsvertrages in der Volkskammer statt. Bei dieser Gelegenheit besetzte eine kleine Gruppe von Besetzern der Stasi-Zentrale auch noch das Rednerpult des hohen Hauses. Dies brachte den Aktivisten neben Ermittlungen wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Nötigung und Widerstand auch noch den Vorwurf ein, dem „Ansehen des Parlamentarismus“ Schaden zugefügt zu haben.

Am 28. September 1990 wurde die Besetzung der Stasizentrale beendet. Ohne sie wäre der Einigungsvertrag ein wenig kürzer, gäbe es heute keine Gauck-Behörde, ohne die Besetzung stünde an der Spitze der Behörde kein Ostdeutscher, gäbe es keinen differenzierten Umgang mit Akten, die sich unterscheiden wie Äpfel und Birnen.

Vor allem aber hätte es ohne die Besetzung der Stasi-Zentrale für Tausende nie die Möglichkeit gegeben, in ihre eigenen Akten zu sehen und zu erfahren, welche ihrer Freunde oder Verwandten Denunzianten waren. Und die Denunzianten wären für andere Geheimdienste durch Erpressung mit altem Herrschaftswissen schnell zu gewinnende Zuträger.

Der Autor war einer der Besetzer der Stasi-Zentrale und ist heute Fraktionsgeschäftsführer der PDS in der BVV Prenzlauer Berg.

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