: Chronik verzweifelter Lügen
Die russische Informationspolitik weist ähnliche Qualitäten auf wie die nach der Explosion des Atomreaktors im ukrainischen Tschernobyl im April 1986
von REINER METZGER
Erinnerungen an das Frühjahr 1986 werden wach: Damals, Ende April, erschienen erste kleinere Artikel in den noch sowjetisch zensierten Zeitungen über ein technisches Problem im Atomreaktor Tschernobyl und dass die technischen Mannschaften an dessen Behebung arbeiteten.
Damals ging es um die Reaktorkatastrophe im ukrainischen AKW Tschernobyl, vielleicht das größte Unglück der Industriegeschichte. Noch heute gibt es keine auch nur annähernd genauen Angaben von Seiten des russischen Staats, wie viele Katastrophenhelfer seinerzeit in der hochverstrahlten Zone eingesetzt wurden und was später mit ihnen geschah.
Das Informationsgebaren der offiziellen Stellen im Fall der „Kursk“ hat ähnliche Qualitäten wie im Fall Tschernobyl – wenn auch das Ausmaß des Schadens nicht miteinander vergleichbar ist: Der 154 Meter lange Koloss sank am Samstag um 9.30 Uhr während eines großen Seemanövers. Russische wie auch US-amerikanische und norwegische Militärs orteten die Explosion sofort. „Zu welchem Zweck“, so fragt die norwegische Anti-Atom-Organisation Bellona, „versuchten die Russen vier Tage lang, alle zum Narren zu halten, indem sie behaupteten, das Boot wäre erst am Sonntag gesunken?“ Schlimmer noch: Das Hauptquartier der Nordmeer-Flotte gab am Sonntagnachmittag eine Presseerklärung heraus, die den erfolgreichen Abschluss des Seemanövers bekannt gab.
Die Havarie wurde erst am Morgen um 9.00 Uhr bekannt gegeben, zwei Tage nach dem Unglück. Ausländische Hilfe wurde erst am Mittwoch angenommen. Hochrangige Mitglieder der Regierung und der Marine, die es alle hätten besser wissen müssen, sagten wiederholt die Unwahrheit. Die Angehörigen der russischen U-Boot-Besatzungen an Land wussten nicht einmal, wer an Bord der „Kursk“ war – alles geheim. Erst am Freitag veröffentlichte die Zeitung Komsomolskaja Prawda eine Liste der „Kursk“-Seemänner – nachdem sie diese nach eigenen Angaben für 18.000 Rubel (1.400 Mark) beschafft und publiziert hatte.
Warum all die Geheimhaltung? Anlässlich des Reaktorunfalls in Tschernobyl fürchtete die damalige Sowjet-Regierung unter Michail Gorbatschow wohl nicht nur die Blamage für die sozialistische Atomindustrie, sondern eine wahre Völkerwanderung aus den betroffenen Provinzen. Auch hätten sich nicht Zehntausende mehr oder weniger freiwillige Helfer nach Tschernobyl abkommandieren lassen, wenn das Ausmaß der Strahlung auch nur annähernd bekannt gewesen wäre.
Das kann beim U-Boot-Unfall nicht der Grund gewesen sein. Hier ging es um die – möglichst schnelle – Rettung der Gesunkenen. Der Schlüssel könnte in der Ursache der Katastrophe liegen: Die These russischer Militärkreise, dass ein anderes Schiff mit der 154 Meter langen „Kursk“ zusammenkrachte, ist nicht wirklich glaubhaft. Denn dann müsste mindestens ein zweites Wrack wenn nicht ebenfalls gesunken, so doch stark beschädigt das Manövergebiet verlassen haben.
Einen Hinweis gab am Donnerstag die Internetseite der offiziellen Militärzeitschrift Roter Stern oder Krasnaja Swesda. Dort hieß es, die „Kursk“ sei 1998 mit neuen Torpedos ausgerüstet worden. Die Marine sei eigentlich gegen diese „Verbesserung“ gewesen. Doch sie habe die neuen Unterwassersprengkörper verwenden müssen, weil diese billiger zu produzieren seien. Die neuen Torpedos werden von flüssigem Treibstoff angetrieben – einem gefährlichen Stoff, der bei landgestützten Raketen schon öfter zu Unglücken geführt hat. Dies könnte die große Explosion im Torpedobereich des Schiffes erklären: Das Schiff schlug auf dem Boden auf, der Flüssigtreibstoff eines oder mehrer Torpedos reagierte und löste die Katastrophe aus. Früher wurden die Torpedo-Antriebsschrauben elektrisch mit teuren Silberbatterien in Schwung gehalten.
In der gedruckten Version der Krasnaja Swesda wird allerdings weiter von einer Kollission mit einem „nicht identifizierten Objekt“ gesprochen. Die Meldung war nach einem halben Tag von der Website verschwunden (englische Version des Artikels unter www.bellona.no). Hätte wirklich der neue Torpedotreibstoff zu der Explosion geführt, hätten die Verantwortlichen allen Grund, dies zu vertuschen. Denn er wird wohl nicht nur auf der „Kursk“ im Einsatz sein.
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