„Ich bin kein Gewaltverbrecher“

Der Kubaner Luis Alvares ist Kapitän von Villa Kunterbunt, der einzigen Knastmannschaft in Deutschland, die in der Bunten Liga gegen Teams von draußen spielen darf und jetzt tragisch im „Supercup“ an Spritzitelli, Sex Roberto und Eva Nilsson scheiterte

aus Aachen BERND MÜLLENDER

Statistik ist manchmal nur bedingt tröstlich. Klar, auswärts sind sie immer noch ungeschlagen und sogar generell unschlagbar: Die Knacki-Mannschaft von Villa Kunterbunt, im Frühjahr im ersten Jahr gleich triumphal Meister der Bunten Liga Aachen geworden, hat schließlich nur Heimspiele. Und auch auf der Anstalts-Asche haben sie noch nie verloren – in der regulären Spielzeit.

Nur diese Elfmeterschießen! Neulich schon hatten sie einmal schlechter gezielt als Gegner Concrete Crocodiles. Und am Mittwochabend ging es beim Supercup-Finale gegen Pokalsieger Aphrodisiaka Aachentina wieder in die Hose: 6:7 nach 3:3 beim Schlusspfiff. Hoch ärgerlich, schien der neue Wanderpokal doch, wie die Häftlinge vorher witzelten, wie für sie geschaffen. Alle hatten sich sofort angeboten, wenn sie ihn gewännen, ihn feierlich wieder rauszubringen, nächstes Jahr ...

Villa Kunterbunt, akut ersatzgeschwächt durch aktuelle Entlassungen und Abschiebungen, hatte sogar einen tragischen Helden: Kapitän und Spielmacher Luis Alvares. Sein harmloser Rempler nach 15 Minuten führte zum Freistoß, und schon stand es 0:1. Drei Minuten später das Zwicken in der Leiste: Zerrung, Spiel zu Ende. Er humpelte zur Ersatzspielerbank. „Ach, es ist ein Mist.“ Es war sein erstes Spiel nach dem Bänderabriss in der Schulter vor fast einem halben Jahr. „Klar, auch beim Fußball.“ Im Halbfinale. Im Übereifer war er zu Boden gekracht.

Luis Alvares ist Kubaner, 37 Jahre alt und Diplom-Biologe. Vor zehn Jahren, erzählt er, hatte er genug von Castro-Land und der Meeresbiologie. „Wir wollten die Alte Welt erobern. Wir wollten mal gucken, was man in Europa so anstellen kann.“ Wir – das waren er „und ein paar Freunde, Bekannte, Gleichgesinnte“.

So hätte eine Erfolgsstory beginnen können, wenn alles nicht so abrupt geendet wäre wie sein Match am Mittwoch: Festnahme. Kokainhandel im großen Stil, sechs Jahre und acht Monate lautete das Urteil. Die Bild-Zeitung schrieb gewohnt groß, der Kriminelle Alvares habe „im Auftrag des berüchtigten kolumbianischen Cali-Drogenkartells“ gearbeitet. Natürlich Quatsch, sagt Luis, und fügt lapidar hinzu: „Ich hab halt Pech gehabt, es erwischt einen eben schon mal im Leben.“ Als hätte nicht die Polizei zugegriffen, sondern das Schicksal. Und die Freunde, Mitaufbrecher von damals? Kurze Pause. „Ich bin der Einzige, der sitzt.“

Luis beim Interview vorher: Immer freundlich, immer pointiert, immer Antworten ohne Ausflüchte. Manchmal sind es nur Stichworte, maximal zwei Sätze. Aber stets auf den Punkt gebracht. Höflich, dabei gern hintergründig grinsend, immer mit Blickkontakt direkt in die Augen. In gutem Deutsch mit nur wenig Restakzent. Schlagfertig und witzig ist er. Zynisch nie.

Besuch in seiner Einzelzelle. Knackies sagen Hütte, auf beamtisch heißt es Haftraum. Elf Quadratmeter, Schrank, Tisch, Stuhl. An den Wänden ringsum: ein großer Picasso („Geschenk von Mithäftlingen“), fürs Fernweh eine Weltkarte, das Poster eines Indianerhäuptlings, denn „meine Vor-Vor-Vorfahren waren Indianer“. Ein paar Hanteln neben dem Bett, Fußballbilder, zahllose Postkarten (eine wie zur Provokation aus der Drogenkapitale Medellín), viele Fotos seiner dicken Harley, noch mehr Fotos schöner Frauen, viele davon spärlich bekleidet auf seiner Harley. „Alles meine Exen.“ Eine davon ist die Mutter von Sohn Louis, heute 10; sie hat sich scheiden lassen.

Luis Alvares, 1 Meter 90 groß, ist ein Modell-Athlet, kräftig, sehnig, durchtrainiert. In Kuba habe er in der ersten Liga Fußball gespielt. Als Torwart. „Bis ich 22 war.“ Heute spielt er abwechselnd Libero oder Torwart bei seinen Kunterbunts.

Knacki-Kontakte sind verwirrend. Alle sind ausnehmend höflich, freundlich, nett. Kaum ein Bunte-Liga-Spiel, bei dem es so extrem fair zugeht wie mit Kunterbunt-Beteiligung. Ob gegen „den natürlichen Gegner“ Aachen Bulls (das Polizeiteam der Bunten Liga, siehe taz vom 1. 10. 99) oder am Mittwoch gegen Aphrodisiakum mit den betörenden Namenszügen auf dem Rücken: Spritzitelli, Fetischvili, Ronald de Hur, Sex Roberto.

Dabei sitzen in der Aachener Justizvollzugsanstalt nur schwere Fälle ein: Raubüberfall, Bandenkriminalität, Mord. Meist fünf Jahre aufwärts. Da entwickelt sich auch ein besonderer Humor. Uli (41), der gegen Aphrodisiaka Aachentina den Linienrichter gab, auf die Frage, ob den großen Star Luis Alvares schon mal wer getunnelt habe: „Einer hat es mal versucht. Jetzt weißt du auch, warum Luis sitzt.“

Die Sportbeamten diskutieren nach dem Elfmeterschießen die Frage, ob die Niederlage eine gute pädagogische Wirkung habe. „Sind eigentlich alle Häftlinge so umgänglich wie Luis Alvares?“ – „Ja, die meisten“, hatte der Wachbeamte Axel Schiffer gesagt, „wie man in den Wald hereinruft ...“ – „Und wer ruft?“ – „Immer beide Seiten.“ Mit Luis Alvares komme er besonders gut klar. Tags zuvor hatte der mit 4:1 Sätzen einen Beamten beim Tischtennis gewinnen lassen: „Ich muss mein Resozialisierungsprogramm hier voll durchziehen“, sagt Luis Alvares dazu.

Im März hatte Alvares seine Haftzeit zur Hälfte abgesessen. Seitdem kann er abgeschoben werden, wenn ihn irgendein Land aufnimmt. „Kuba oder ein anderes, das ist egal.“ Sein Anwalt arbeite am Fall. Luis wartet und hofft. Und will draußen zuerst eine neue Partnerin suchen: „Aber die muss schon sehr gut sein. Eine Wunderfrau mindestens.“ Nicht ohne spitzfindige Ergänzung: „Wie die anderen auch.“

Vielleicht hat das Supercupfinale sogar geholfen. Durch die Nummer 3 des Gegners. Nicht weil die „Eva Nilsson“ auf dem Trikotrücken stehen hatte. Sondern weil in diesem Trikot Kolja Linden steckte, im richtigen Leben Sohn des Aachener SPD-Oberbürgermeisters. Da gibt es doch traditionell Kontakte nach Kuba. Fidel, hilf! Hol den netten Luis heim! „Na, ob das klappt?!“ Luis Alvares grinst. Und ärgert sich gleich wieder: „Ich hätte meinen Elfer reingetan, logisch.“

Einmal hatte der Wachbeamte Schiffer beim Interview kurz den Raum verlassen, Fotograf und Reporter waren allein mit Luis Alvares. Ein kurzer beklemmender Gedanke: „Was, wenn der jetzt ...“ Luis hat hoch wache Antennen. „Schiss?“ Versuch eines Scherzes: „Bitte? Äääh ... ich sehe schon die Schlagzeilen: Geiselnahme bei Interview. Drama im Knast ...“ Luis Alvares lacht lauthals und sagt: „Entschuldigung. Aber ich bin Geschäftsmann. Kein Gewaltverbrecher.“