: Vabanquespiele und Größenwahn
Ian Kershaw hat eine enzyklopädische Biografie von Adolf Hitler geschrieben. Wohl noch nie wurde dessen Leben so facettenreich erzählt
von ANNETTE JANDER
Der Diktator greift beherzt nach der Weltkugel, umarmt sie und und lässt sie zärtlich in der Luft schweben – bis sie zerplatzt. Mit dieser unvergesslichen Szene karikiert Charlie Chaplin 1940 Macht und Größenwahn in seinem Film „Der große Diktator“, und er kommt damit der Realität näher, als er es ahnen konnte: In einer Aufnahme aus dem gleichen Jahr sieht man Adolf Hitler, wie er steif auf und nieder hüpft, die Arme zur Seite spreizt und hämisch lacht. Grund seiner Freude: die Nachricht, dass Frankreich den Deutschen einen Waffenstillstand anbietet. Beide Szenen drängen sich immer wieder auf, wenn man die gewichtige Hitlerbiografie des britischen Historikers Ian Kershaw liest, deren zweiter Teil (1936 – 1945) von mehr als 1.300 Seiten jetzt erschienen ist. Während sich die früheren Hitlerbiografen meist auf wenige Charakteristika als Interpretationsansatz konzentrierten, präsentiert Kershaw die ganze Palette der Hitler’schen Persönlichkeit – von der maßlosen Selbstüberschätzung, der Manie und dem Verführerischen bis hin zu Midlife-Crisis und Selbstmitleid. So differenziert hat man Hitler wohl noch nie gesehen. Das mag daran liegen, dass Kershaw den Diktator Hitler oft selbst zu Wort kommen lässt – ihn durch eigene Aussagen darstellt (von denen die meisten natürlich nur vermittels Zeitzeugen überliefert wurden). Kershaw entspinnt in weiten Teilen eine Erzählung aus den Fakten selbst, die er deutlich von Analyse und Kommentar absetzt.
Er konnte bei seinem Buch auf alle bekannten Quellen und wichtige eigene Arbeiten über die Nazi-Diktatur zurückgreifen. Kein Zweifel, er kennt sich in der deutschen Hitlerforschung aus wie kaum ein anderer, hat sich jedoch frei gemacht von der Aufarbeitung der früheren Interpretationen: Eine Forschungsdebatte führt er nicht. Das „Wieso“ des Holocausts, das früher so entscheidend war, ist bei Kershaw nicht mehr die zentrale Frage, sondern das „Wie“. So befasst er sich intensiv mit den Herrschaftsstrukturen, dank deren es auch keiner Weisung Hitlers zur „Endlösung“ bedurfte. Ein schriftlicher Führerbefehl zur „Endlösung“ war sogar nicht erwünscht, denn Geheimhaltung galt als höchstes Gebot. In der Tat hat Hitler Deportationen persönlich genehmigt, über die „Arbeit“ der Einsatzgruppen wurde er auf dem Laufenden gehalten. Hitler gab Vollmachten statt präziser Weisungen. Ian Kershaw bestätigt eindrücklich den Konsens, zu dem die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren gefunden hat: „Die Mitschuld vieler war ungeheuerlich (. . .) Aber ohne Hitler und das einzigartige Regime, an dessen Spitze er stand, wäre die Schaffung eines Programms zur Verwirklichung der physischen Ausrottung der Juden Europas undenkbar gewesen.“
Deshalb widmet der Autor sein Augenmerk, wie schon in früheren Arbeiten, der Umgebung Hitlers und dem Funktionieren des Staates, der um die Person des Führers gebaut war. Bereits im ersten Band war ihm wichtig, die Zersetzung der jungen Weimarer Demokratie und deren mühelose Überführung in den Führerstaat darzustellen. Was die inneren Strukturen des nun gefestigten Deutschen Reiches angeht, so ist Kershaws Fazit bereits für 1936: „Alles zusammengenommen handelte es sich hier um ein vollendetes Beispiel für administrative und ökonomische Anarchie.“ Der Krieg wurde deshalb auch ein Weg aus dem inneren Chaos. „Die unerbittliche Zersetzung kohärenter Herrschaftsstrukturen war . . . nicht nur ein Ergebnis des allumfassenden Führerkults, der Hitlers absolute Vorherrschaft widerspiegelte und ausschmückte. Gleichzeitig bekräftigte dieser Prozeß den Mythos des allsehenden, allwissenden, unfehlbaren Führers und erhob diesen zum Regierungsprinzip. Es war keine gute Voraussetzung für rationale Entscheidungen, daß Hitler der überzeugteste aller Gläubigen war.“ Mit dieser Prise Sarkasmus beschreibt Kershaw hier sein Grundthema: den Führerstaat.
Im gleichen Atemzug betont Kershaw, wie wichtig politische Fehler des Auslands im Vorfeld des Krieges waren – allen voran das Versagen des unerfahrenen britischen Premiers Neville Chamberlain. Kershaw zitiert dessen naive Äußerung nach seinem Treffen mit Hitler 1938: „Trotz der Härte und der Rücksichtslosigkeit, die ich in seinem Gesicht zu entdecken glaubte, gewann ich den Eindruck, es hier mit einem Mann zu tun zu haben, auf dessen Wort man sich verlassen kann.“ Die demokratischen Führer waren vor dem Krieg zu schwach gewesen, um Hitler zu trotzen. Fast widerstandslos konnte er Deutschland das Österreich und das Sudentenland einverleiben, die Tschechoslowakei war damals nur der logische nächste Schritt.
Ursprünglich hatte Hitler den Kriegsausbruch für das Jahr 1942 oder danach vorgesehen und eine Dauer von zehn bis zwölf Jahren vorhergesagt. Es war sein unerbittlicher Größenwahn, die Leichtigkeit mit der er seine „Vabanquespiele“ der Jahre 1936 – 38 gewann, die Hitler immer schneller den nächsten Schritt tun ließen. Carpe diem ist für ihn keine leere Phrase. Hier offenbart sich aber auch ein Mann in der Midlife-Crisis, der ab 1937 überzeugt war, nur er sei in der Lage, die Probleme zu lösen, und er habe kein langes Leben zu erwarten. Es ging ihm vor allem um die Probleme der Sicherung des „Lebensraums“ im Osten.
Nach Kriegsausbruch beschäftigte sich Hitler ausschließlich mit militärischen Angelegenheiten und mit seinen Generälen, die er umherschob wie Schachfiguren. Joseph Goebbels, der ihm die Unterstützung des Reiches sicher sollte, verblieb im engsten Kreise: Der Reichspropagandaminister war seine Verbindung zu Berlin, wo sich Hitler kaum mehr aufhielt. Wenn er in Deutschland war, dann am liebsten in Berchtesgaden auf seinem Berghof. Berlin wurde ihm geradezu verhasst.
Kershaw versucht auch hier nicht Hitlers Psyche auszuloten, sondern seine wechselnden Motive aufzuzeigen. Er findet Rassenwahn auf der einen, wirtschaftliche Erwägungen auf der anderen Seite. Die Eroberungsfeldzüge waren auch kalkulierte Raubzüge und richteten sich häufig nach dem Vorhandensein von Rohstoffen, die man im Reich brauchte, um den Krieg weiterzuführen. Gleichzeitig ließ Hitler nie in seiner antisemitischen Rhetorik nach. Die Suche nach Sündenböcken – später für das sich wendende Kriegsglück – führte ihn immer direkt zu den Juden und den Bolschewisten, die schon bald zum großen Erzfeind verschmolzen waren und Hitlers manisches Temperament ständig aufs Neue erregten. Goebbels hatte bereits am 30. November 1937 in seinem Tagebuch notiert: „Die Juden müssen aus Deutschland, ja aus ganz Europa heraus. Das dauert noch eine Zeit, aber geschehen wird und muß das. Der Führer ist fest entschlossen dazu.“
Das Herz von Kershaws Biographie ist das Unternehmen Barbarossa, der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 – und es ist ein wahres Herz der Finsternis, denn der Autor schildert parallel die grausame „Arbeit“ der SS Einsatzgruppen, der Polizeibataillone, die Unterstützung durch die Wehrmacht und das millionenfache Sterben an und hinter der Front in einem „Vernichtungskrieg.“ Hitler lässt unerbittlich kämpfen und morden: „Der Kommunist ist kein Kamerad“, wird den Soldaten befohlen. Allein 2,5 Millionen sowjetische Kriegsgefangene müssen sterben. Die deutschen Männer werden ebenso mitleidslos von ihrem Führer verheizt. Der Kommentar Hitlers zu seinem Lieblingsgeneral Heinz Guderian: „Glauben Sie, die Grenadiere Friedrichs des Großen wären gerne gestorben? . . . Sie wollten auch leben . . . Ich halte mich gleichfalls für berechtigt, von jedem deutschen Soldaten das Opfer seines Lebens zu fordern.“
Eine weitläufige Verstrickung der meisten Generäle in diese Verbrechen wird ausführlich bewiesen. Auch das deutsche Volk wusste Hitler selbst nach der Katastrophe von Stalingrad noch hinter sich. Widerstand aber konnte nur von innen erfolgen. Es gab mehrere geplante Attentate, die abgesagt wurden oder ihr Ziel verfehlten. Für die Frage, wie Hitler die Anschläge auf sein Leben überleben konnte, hat Kershaw eine einfache und doch einleuchtende Erklärung: „Tatsächlich war es, wie so oft in seinem Leben, nicht die Vorsehung, die ihn gerettet hatte, sondern Glück, ein teuflisches Glück.“ Weder hier noch an anderer Stelle wird Mythenbildung geduldet.
Besonders die Jahre 1944/45 zeigen, dass das Nazi-Regime unfähig war, vom einmal beschrittenen Weg abzuweichen. Nur Hitler selbst hätte den Weg aus der Katastrophe zeigen können, aber aus seiner Verführungskraft entwickelte sich nie echte Führungskraft. Nach Stalingrad befanden sich die deutschen Armeen überall im Rückzug. Ihr Oberbefehlshaber hoffte bis zum bitteren Ende lediglich auf Wunder. Er monologisierte noch im Bunker in Berlin über die Fehler der Generäle, dass die Russen vor Berlin ihre größte Niederlage erleben würden und schließlich: Er sei eben zu früh an die Macht gekommen. Kershaws Kommentar: „Das hatte er seinerzeit ganz anders gesehen.“ Immer wieder blitzt dieser Sarkasmus auf, der Hitler ins richtige Licht rückt.
Straff auf die Fakten konzentriert und Spekulationen weitgehend ignorierend, vermittelt Kershaw neben den Superlativen, die die Erzählung erfordern, ein ungewohnt nüchternes Bild des Führers in enger Beziehung zu den vielen, die ihm folgten. Die Biografie meistert den Spagat zwischen Zugänglichkeit und strenger Wissenschaftlichkeit, auch wenn sie stilistisch uneinheitlich ist. Einzelne Episoden wie Hitlers Schmierentheater, mit dem Österreich zum Anschluss gezwungen werden sollte, oder auch die Beschreibung der Ereignisse um das Attentat vom 20. Juli 1944 ragen erzählerisch über andere heraus. Nur bei der Einschätzung der Bedeutung Einzelner im Widerstand darf man sich manchmal wundern, wenn etwa der Staatssekretär Ernst von Weizsäcker als eine Speerspitze des Widerstands auftritt. Er fungiert bei Kershaw quasi als Gegenspieler zum Reichskriegshetzer Joachim von Ribbentrop, den er in der Tradition der britischen Geschichtsschreibung für besonders verabscheuungswürdig hält.
Insgesamt demonstriert Kershaw anschaulich, dass es sich bei Hitler keineswegs um einen Verrückten handelte, wenn auch um einen gestörten, letztlich empfindungslosen Menschen mit fortschreitendem Realitätsverlust. Wir erfahren einen im schillerschen Sinne sentimentalischen Menschen ohne jegliches Talent zur menschlichen Größe. Kershaws Fazit: „Hitler war der wichtigste Inspirator eines Völkermords, wie ihn die Welt niemals kennengelernt hatte.“ Sein Name steht für den „tiefreichendsten Zusammenbruch der Zivilisation in der Moderne“. Hier mag die Stalin-Hitler-Debatte wieder aufzüngeln, denn der Historiker Bogdan Musial hat soeben eine Studie über die Kriegsführung Stalins veröffentlicht, aber über Hitlers Person, wie sie Ian Kershaw darstellt, wird es kaum Kontroversen geben.
Ian Kershaw: „Hitler. 1936 – 1945.“ Übersetzt von Klaus Kochmann. DVA, München 2000, 1.344 Seiten, 88 Mark
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