Filmstarts à la carte: Ungewöhnliche Perspektiven
■ Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm war bekanntlich von Problemen begleitet: Oft waren die Tonapparaturen technisch noch nicht ausgereift, vor allem aber mussten die surrenden Kameras in schalldichte Gehäuse gesteckt werden. Dadurch wurden sie klobig und unbeweglich. Folglich machten es sich viele Regisseure einfach und filmten statische Dialogpassagen oder bühnenhafte Musicals aus der Guckkastenperspektive. Einer, der ein paar Gedanken mehr verschwendete, war Robert Siodmak, der bereits in seinem zweiten langen Spielfilm „Abschied“ (1930) Gespür für die Dinge zeigte, die später auch seine berühmten amerikanischen Produktionen auszeichnen sollte: eine stimmige Atmosphäre, die Dramatisierung der Story durch das Licht, der innovative Umgang mit dem Ton. „Abschied“ erzählt von den Bewohnern einer Familienpension: Arbeitslose, Tänzerinnen und Bonvivants bevölkern die Räume, aus denen ein heilloses Durcheinander von Klaviermusik, Telefonaten und Geschwätz dringt. Erst langsam kristallisiert sich dazu ein Plot heraus: Ein junger Mann hat eine neue Arbeit in Dresden angenommen, seine Freundin aber wird in Berlin zurückbleiben. Da die Kamera mit Ausnahme des Epilogs die Pension nie verlässt, schufen sich Siodmak und sein Kameramann Schüfftan in den beengten Dekors immer neue, oft ungewöhnliche Perspektiven: Türen eröffnen neue Räume in die Tiefe, der Vordergrund wird häufig durch Requisiten oder Personen verstellt, die unscharf im Anschnitt zu sehen sind, und oft treten handelnde Charaktere in die Kadrage hinein oder hinaus. In einer Szene sind die Protagonisten sogar überhaupt nicht im Bild: Der Dialog kommt aus dem Off, während der Zigarettenqualm des rauchenden Pärchens langsam zur Decke steigt.
„Abschied“ 6.9. in den Eva- Lichtspielen
■ Eine erfreuliche Begleiterscheinung der Hitchcock-Ausstellung im Filmmuseum Potsdam ist die dem Meister gewidmete Retrospektive, in der sich auch einige Filme finden, die in Deutschland nie einen ordentlichen Kinostart erfahren haben und nur selten zu sehen sind. Wie etwa „Easy Virtue“, ein 1927 nach einem Theaterstück von Noël Coward entstandenes Melodram, das bereits viele Motive aufweist, die Hitchcock im Laufe seiner Karriere immer wieder variiert hat: die böse Mutter und das Muttersöhnchen, die Familie als Quelle und Hort des Unglücks, die sexuelle Leichtfertigkeit der Frau und ihre Sühne. „Easy Virtue“ erzählt die Geschichte der leichtlebigen Larita: Nachdem sie in England in einen skandalösen Scheidungsprozess verwickelt war, lernt sie an der Côte d‘Azur den wohl-situierten John kennen. Von Laritas Vergangenheit will er nichts wissen — wie so oft bei Hitchcock werden zwei Menschen ein Paar, die einander kaum kennen. Der Irrtum wird offenbar, als die beiden in Johns Elternhaus zurückkehren: In der ländlich- konservativen Atmosphäre ist die lebenslustige Larita einfach fehl am Platz. Der Suspense ist in „Easy Virtue“ vor allem emotionaler Art: Was wird passieren, wenn die Familie von Laritas bewegter Vergangenheit erfährt? Am Ende steht der zerstörte Traum vom Glück und der nach Hitchcocks eigener Aussage schlechteste Zwischentitel, den er je geschrieben habe: „Schießt doch, es gibt nichts mehr zu töten“, ruft Larita einigen Fotografen zu, die sie nach ihrem zweiten Scheidungsprozess belauern.
„Easy Virtue“ 1.9., 3.9. im Filmmuseum Potsdam
■ In seinen Spätwerken frönte Howard Hawks eher dem Stadtwestern, doch 1948 ging es für „Red River“ noch richtig hinaus in die Prärie. In der Geschichte eines großen Viehtrecks, der zu Konflikten zwischen dem starrsinnigen, selbstherrlichen Anführer und seinem ruhigen Ziehsohn führt und in einer Meuterei mündet, gelang es Hawks sogar, zwei unvereinbar scheinende Schauspielertypen mit Bravour einzusetzen: den von seiner unvergleichlichen Aura zehrenden Monolithen John Wayne und den Method-Schauspieler Montgomery Clift.
„Red River“ 2.9. im Arsenal
Lars Penning
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