: Beraubung des Verstehens
Eine Vorderbühne wird aufgebaut, auf der es mörderisch drastisch zur Sache geht, die Hinterbühne wird ausgeblendet, ohne die es diese Sache eben nicht gäbe: Hündisch-höllische Projektionen und deutsche Idyllik – zur braunen Gewalt in Deutschland
von PETER FUCHS
Die Gefahr kommt von rechts, heißt es, sie sei gestiefelt, tätowiert, haupthaarfrei und keinesfalls kopfgesteuert, was dann so viel bedeuten soll wie: Sie sei überwiegend jung, fehlgeleitet und (fragen wir Sozialpädagogen und Psychologen) sowohl kognitiv als auch emotional reparaturbedürftig. Die Massenmedien entwerfen das Bild marschierender Horden, und sie zeigen, weil sie nur so funktionieren, auf die Muskeln, die hasserfüllten Gesichter, die Schlagwaffen, kurz: auf diese Leute. Sie führen Individuen vor, in deren Kopf oder Bauch es dumpf brodelt. Vor dem Hintergrund unserer unseligen Geschichte werden diese Individuen durch sich selbst und durch ihre massenmedialen Beobachter eingeklinkt in die überall verfügbaren Schemata brauner Gewalt. Man sieht sie wieder durch die Straßen ziehen, pöbelnd, Parolen skandierend, in stampfenden Stiefeln, besinnungslos vor Mordlust und Blutdurst.
Man übersieht dabei, dass dieses Bild so nie, nie so gestimmt hat. Es hat Entlastungsfunktion, indem es entfesselte Körper inszeniert, Gewalt auf diese Körper zurechnet, und es entlastet die Strukturen, in die dies alles eingebettet ist. Eine Vorderbühne wird aufgebaut, auf der es mörderisch drastisch zur Sache geht, die Hinterbühne wird ausgeblendet, ohne die es diese Sache nicht gäbe. Die Blutmärsche von Weimar nach Buchenwald fanden schließlich nicht ungesehen statt, und Bergen-Belsen war weder sozial noch historisch abgekoppelt vom Lande, in dem es liegt. Es gibt nicht die Idylle und das Infernalische nebeneinander, sondern beides zugleich – in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, in, wie Spencer-Brown sagen würde, konditionierter Koproduktion. Bilder, die nur die infernalischen Leute zeigen, haben hier ihren blinden Fleck. Sie projizieren Hündisch-Höllenhaftes in die Körper, auf die Körper, aber sie projizieren die Gegen- und Kehrseite nicht mit, die Normalität der Strukturen, die Strukturen der Normalität, in denen dies alles gedeihen kann.
Niemand will verstehen
Es sind, wie man vielleicht sagen könnte, immer Beraubungsverhältnisse, durch die physische Gewalt ermöglicht, angestachelt, begünstigt wird – und die These ist, dass es auf eine fundamentale Weise um den Raub eines Verstehens geht, sei es, dass jemand nicht verstanden wird (niemand schließt an), sei es, dass man keine Mittel hat, dieses Verstehen zu erreichen, sei es, dass niemand verstehen will. In Supermärkten sieht man es alle Tage: Das Kind will etwas haben, wovon die Eltern meinen, dass es das Kind nicht haben soll, nicht jetzt, nicht hier, später vielleicht und andernorts, vielleicht zu Weihnachten. Der Effekt: körperlich ausrastende, in spitzen Tönen kreischende Kinder, wie geschüttelt von einer übermächtigen Macht. Und dann und zugleich: peinlich berührte Eltern, genötigt, Kinder hinter sich her zu schleifen, unter den Arm zu klemmen – ein Prozess, der sich wahrlich nicht durch Vernunft auskühlt, sondern Wiederholungen erzwingt zur Ermittlung des Stärkeren, Gewalt allemal. Der Zirkel liegt auf der Hand: Die Kinder verstehen nicht, dass die Eltern nicht verstehen; die Eltern verstehen nicht, dass die Kinder nicht verstehen. Töchtergeplagter Vater, der ich bin, weiß ich, wie das ist, wenn Türen zugeschlagen, Tassen und Teller hingeschmissen werden, weswegen Drehtüren und Plastikgeschirr lange Lebensoptionen für mich waren und noch immer sind.
Da hakt jedenfalls ein psychisches Verstehen aus, an dessen Stelle die körperbasierte, heftige Markierung einer Substitution des Verstehens zu treten scheint: Gewalt, die aber, das ist der soziologische Pfiff, nicht Nichtkommunikation ist. Sie schreibt etwas mit Körpern in den Raum – schriftlos, hilflos, die Figuration einer lärmenden Verzweiflung, einer wütenden Leere, eines kollektiven nervous breakdown. Wer dies deuten will, mag nicht nur finden: „Ihr versteht mich nicht!“, sondern auch: „Ihr dürft . . .“ und gar: „Ihr sollt mich nicht verstehen.“ Eine meiner Erfahrungen mit gewaltbereiten Jugendlichen ist, dass der Versuch des Verstehens kontraindiziert ist: Sie fürchten ihn wie der Teufel das Weihwasser und die Vampire das Knoblauch. Der Hinweis auf Verstehensexperten (Psychotherapeuten) ist gleichbedeutend mit dem Abbruch der Kommunikation. Sozialpädagogen, darin geübt, sattes Verstehen zu heucheln, machen damit, wie ich denke, bittere Erfahrungen. Das mag daran liegen, dass sie nicht tief genug in die eigene Seele steigen, um dieselben Mordgelüste zu finden, die die anderen durch ihre furchtbaren Taten ausdrücken.
In der neueren soziologischen Systemtheorie ist aber Verstehen nicht einfach nur ein psychischer Zustand des Verstandenhabens und Einverstandenseins. Auch ein Schlag ins Gesicht ist die Auszeichnung eines Verstehens, insofern es die Mitteilung einer Information ist, und das Zurückschlagen oder Weglaufen ist nichts anderes als ein weiteres Auszeichnen eines weiteren Verstehens. Soziale Systeme sind nicht auf dumpfem Gleichsinn aufgebaut, schon gar nicht auf Vernunft, und auch nicht auf ein laufendes Ausloten der eigenen und der anderen Seelenzustände. Das wären hoch getriebene (literarische) Verhältnisse, die – wie etwa in der Epoche der Empfindsamkeit – zur Lächerlichkeit tendieren. Verstehen ist zunächst und vor allem Anschluss, Fortsetzung, Weiterbetrieb. Seine zentrale Rolle in sozialen Prozessen ist nicht so sehr, dass richtig verstanden wird (gibt es das überhaupt?), sondern dass über Anschlüsse die soziale Adresse des Menschen, seine Person ausgearbeitet wird, die eine (Über-) Lebensnotwendigkeit ist. Es gibt niemanden, der nicht in diesem Sinne eine Adresse ist, ja, dessen tiefstes Begehren es nicht wäre, eine Adresse zu sein, anschlussfähig also. Schon der Säugling strampelt und lächelt sich in diese Adressabilität hinein. Und es ist hier schon klar, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die prügelnd durch die Straßen ziehen, sich in Adressabilität hineinprügeln – und sei es für die Massenmedien, die (wie jüngst der Stern und jetzt auch die taz) fatale Adressen erzeugen mit hohem unkontrollierbarem Anschlusswert.
Was fehlt diesen Leuten?
Beraubung des Verstehens – wenn es das ist, was uns durch diese Gewaltausbrüche signalisiert wird – müsste dann dasselbe sein wie das Ausbleiben von Anschlüssen. Nicht, dass dann gar nichts ginge, aber was geht, würde dann auf Inseln wechselseitiger Bestätigungen erwirtschaftet, in einem Gesinnungsmorast, in dem alle Heimat finden, die paar Leute, die die Muskeln haben und deswegen als wandelnde Fleischberge den Medien imponieren, und die vielen anderen, die sich nur die Schädel rasieren, weil sie nicht wissen, was dem Samson geschah, als er seiner Haare beraubt wurde. Die Frage wäre dann, was fehlt diesen Leuten? Welcher Art von Anschlüssen sind sie beraubt worden? Oder vielleicht: Welche Anschlüsse wollen sie stabilisieren, nicht aufgeben, fort und fort so leidenschaftlich wiederholen, dass es auf eigene und fremde Leben nicht mehr so sehr ankommt?
Es müssten die sein, die sie in der braunen Szene finden und aus eigenen frühen kindlichen Erfahrungen heraus repetieren wollen – Anschlüsse, die ein vinculum sociale, ein soziales Band, Kollektivität oder Gemeinschaft, kurz: Solidarität bezeichnen. Solidarität nicht als das mühsame Austarieren und Kalibrieren reziproker Ausnutzungsmöglichkeiten, wie ein Soziologe denken könnte, sondern als kuhwarme Welt der Nähe, die noch im Wort von der Lebenswelt anklingt. Im Deutschen gibt es (und nicht sehr zufällig) Wörter, die diese Nahwärme ausdrücken und die kaum in andere Sprachen übersetzt werden können: Innigkeit zum Beispiel oder auch Gemütlichkeit oder auch Heimat oder gar Inbrunst. Darin rieselt der Schnee, schmücken Frauen fromm die Fenster, da baun sich Wälder auf hoch da droben, da besiedeln Gartenzwerge die Vorgärten, da ziert man Hauswände mit Metallmöwen. Deutschland ist das Mutterland aller Vereinsmeierei, der Schrebergärten, der Autowaschanlagen. Es ist kreuzsentimental, es liebt Wunderkerzen und es schwenkt Feuerzeuge. Sentimentalität und Ressentiment, das hängt zusammen wie Schäferhunde, Weihnachtsfeiern und KZ-Konzerte. Nicht umsonst findet die rechte Gewalt ein so seltsam mürrisches Mitverstehn – als wirksame Struktur einer klammheimlichen Begünstigung. Noch die Motive des neuerdings so betonten Dagegen-Seins erweisen sich als Schutzbedürfnisse. Es geht um den eigenen Claim, um das Bild, das man nach außen darbietet.
Das andere Deutschland, das ist noch immer sehr bemühte Weltbürgerlichkeit und kosmopolitischer Biedersinn, wie sehr es auch ökonomisch ins Globalisierungsphantasma einrangiert ist und wie einverstanden es sich auch erklärt mit dem Hyper- und Turbokapitalismus der Gegenwart, der die Seelen und die Zeit verschlingt und alle die zurücklässt, die nichts mehr ersehnen als einen kleinen, warmen, ungestörten Raum zum Leben – eine tiefe deutsche Sehnsucht, der mit trockenem Geist und winterklarer Ironie nicht beizukommen ist. Dieser Raum ist gestört worden durch das, was man Postmoderne genannt hat. Sie ist der bündige, wenn auch nicht tiefenscharfe Ausdruck für Beliebigkeit schlechthin, Bezeichnung eines Weltbildes, in dem eine, sagen wir, Generaldiversität zelebriert wird, zugegeben mit einer sanften Melancholie, aber doch mit einem Heroismus, mit der die intellektuelle Welt das Aushalten der Widersprüche in einer Gesellschaft pflegt, in der nebeneinander Gadamers hundertster Geburtstag gefeiert, die Feier der Befreiung Bergen-Belsens notiert und Teleunterhaltungen wie Big Brother frenetisch umjubelt werden können, indessen in den Townships gestorben, im Westen die Homosexuellen-Ehe gefordert wird und die Love Parade durch Berlin tost – ein Schelm und Schalk dann, durch dessen Blick dabei Totentänze klappernd ihre Bahn ziehen.
Was fehlt den tobenden Körpern in den Straßen? – Bestätigung ihrer Sentimentalität! Was haben sie im Überfluss? – Deutsches Gemüt! Was wäre die schärfste Waffe gegen sentimentale Killer jugendlichen Alters? – Verstehen, dies genau verstehen, dass es die Biederwelt ist, die diese Leute suchen und ins Drastische verzerren. Die Biedernahwelt ist eine Ordnungswelt mit Hecke, Hollywoodschaukel aus Buchenholz und FamilienVan. Ich lese in der Zeitung, daß Lübecks Stadtmanagerin Sabrina de Carvalho „Schmutzfinken und Müllsünder“ mit einer Verordnung für Sauberkeit und Sicherheit überziehen will, wie es Cuxhaven schon getan hat und worin Singapur ein Vorbild sein könnte. Ach ja! Das ist es! Und mit J. Alfred Prufrock würde ich viel lieber sagen: „That is not what I meant at all. That is not it, at all.“
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