: Opfer einer Inszenierung
Die Pazifisten müssen ihr Versagen in der Kosovo-Debatte aufarbeiten – denn in Zukunft sind ähnliche Konflikte zu erwarten. Ein Aufruf zum Antikriegstag
Eineinhalb Jahre nach dem Beginn der „humanitären Intervention“ der Nato in der Bundesrepublik Jugoslawien ist die humanitäre Lage im Kosovo nicht besser, sondern eindeutig schlechter geworden. Ein friedliches Zusammenleben von Serben und Kosovaren ist nicht in Sicht, der Hass zwischen ihnen ist tiefer geworden. Dank des Nato-Krieges sitzt Milošević fester im Sattel denn je; die serbische Opposition ist dagegen noch schwächer geworden. Dennoch oder gerade deshalb schweigen die einstigen Kriegsbefürworter eisern zu vielen offenen Fragen.
Warum überhaupt dieser Krieg, warum die 5.000 Kriegstoten, die 100 Milliarden Dollar Kriegskosten, warum die Zerstörung von Brücken, Elektrizitätswerken, Fabriken und der Umwelt? Erst recht wird darüber geschwiegen, wer die eigentlichen Gewinner dieses Krieges sind: der militärisch-industrielle Komplex Europas und der Vereinigten Staaten und die USA selbst, die in Südosteuropa neue Stützpunkte – etwa „Camp Bondsteel“ in der Nähe von Urosevac im Kosovo – einrichten und ihre geostrategische Position in diesem Teil der Welt damit weiter ausbauen können.
Trotz der Zweifel und der späten Einsicht ob der eigenen Fehlentscheidungen verdrängen die Kriegsbefürworter von einst, unter dem Motto „jetzt nach vorn schauen“ eine kritische Aufarbeitung. Genau diese aber ist im Hinblick auf ähnliche Konfliktlagen in Zukunft dringend erforderlich. Auf zwei Gruppen lastet daher besonders große Verantwortung: auf den so genannten Verantwortungs- und auf den Radikalpazifisten.
Im Kosovo-Krieg ist es den Nato-Strategen und der rot-grünen Regierung gelungen, die Pazifisten zu spalten. Die Radikalpazifisten wurden als weltfremde und gewissenlose Utopisten diffamiert, denen ein Hochhalten des abstrakten Prinzips Gewaltfreiheit wichtiger sei als der konkrete Schutz von Menschen vor einem drohenden Völkermord. Und die Varantwortungspazifisten wurden bei ihrem Verantwortungsgefühl gepackt und vor den Karren der „humanitären Intervention“ gespannt.
Die Verantwortungspazifisten, vor allem Persönlichkeiten wie Erhard Eppler und Günter Grass, an deren Integrität kein Zweifel besteht, müssten sich nachträglich fragen lassen, ob sie nicht Opfer einer perfekten Inszenierung des „menschenrechtlichen Notfalls“ geworden sind. Immerhin haben sie durch ihr Eintreten für den Krieg mit den Ausschlag dafür gegeben, dass zum ersten Mal eine Mehrheit der Deutschen der direkten Beteiligung der Bundeswehr an einem Krieg zugestimmt hat. Sie haben manipulierter Nato-Information und -Propaganda blind geglaubt und diese für bare Münze genommen.
Zwischen unbestreitbaren massiven serbischen Menschenrechtsverletzungen und systematischen Massakern, die wie in Racak und andernorts den Serben – wie sich inzwischen herausgestellt hat - durch perfekte Inszenierungen in die Schuhe geschoben wurden, um den Tatbestand des Völkermords als Kriegsrechtfertigungsgrund zu beweisen, besteht immerhin ein entscheidender Unterschied. Genau diese Inszenierungen des „menschenrechtlichen Notfalls“ und der angebliche „Hufeisenplan“ dienten damals dazu, den Nato-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien als Entscheidungsschlacht zwischen Faschismus und Demokratie, zwischen Bestialität und Humanität, zwischen „Zivilisation und Barbarei“ (Habermas) hochzustilisieren.
Welche Verantwortung aber lastet auf den Radikalpazifisten? Haben sie auf die konkrete Situation vor und während des Krieges richtig reagiert, haben sie alles getan, um den Schulterschluss zwischen den Verantwortungspazifisten und den Nato-Geostrategen zu verhindern? Haben sie die Verunsicherung vieler, die trotz ihrer pazifistischen Grundhaltung glaubten, aus verantwortungsethischen Gründen den Nato-Krieg hinnehmen zu müssen, zur Kenntnis genommen? Und: Haben sie sich bemüht, politisch rechtzeitig und angemessen darauf zu reagieren?
Zumindest hat sich ihre hartnäckige Weigerung, sich auf die Debatte um einen menschenrechtlich begründeten Notfall überhaupt einzulassen, als verhängnisvoll erwiesen – zumal kein noch so radikaler Pazifist leugnen kann, dass es Situationen geben kann, in denen die Beendigung einer menschlichen Tragödie nur mit Gewalteinsatz möglich ist. Holocaust und Ruanda belegen das.
In einer Situation wie vor dem Kosovo-Krieg, wo die Inszenierung des menschenrechtlichen Notfalls gelungen ist, verpuffen allerdings die besten pazifistischen Argumentationsmuster. Nicht Vernunft, nicht Moral, nicht gute Argumente und auch nicht historische Erfahrungen, sondern nur noch dumpfe Gefühle und Emotionen bestimmen in derartigen Situationen die Meinungen. Im Kosovo wurde nicht zum ersten Mal die Kriegslegitimation durch eine Inszenierung herbeigeführt, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein.
Im postkolonialen Zeitalter der Globalisierung werden hegemonialpolitische und geostrategische Interessen mit subtileren Rechtfertigungsmustern durchgesetzt werden. „Humanitäre Intervention“, eine Neuauflage des „gerechten Kriegs“, scheint sich als ein wirksames und mobilisierendes Kriegsrechtfertigungsinstrument herauszustellen, dessen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft USA, Nato, Russland und andere Staaten bedienen werden, um ihre national-hegemonialen Interessen durchzusetzen.
Dies impliziert aber, diesen Notfall als grundsätzliche Möglichkeit, die ausnahmsweise auch mit Gewalteinsatz beendet werden muss, erstens in Betracht zu ziehen und ihm zweitens, wo und von wem er auch immer aus Gründen eigener politischer Interessen inszeniert wird, ganz konkret und mit allen verfügbaren Möglichkeiten den propagandistischen Schleier zu entreißen. Erst diese Doppelstrategie kann die Spaltung der Pazifisten und den Schulterschluss eines Teils von ihnen mit den Kriegstreibern verhindern oder wenigstens erschweren.
Verantwortlich handelnde Pazifisten müssen neben ihrer prinzipiellen Überzeugung, dass Krieg Menschenrechtsverletzungen nicht beendet, sondern selbst verursacht und neue hinzufügt, (a) angesichts von auch in Zukunft prinzipiell möglichen menschlichen Tragödien dazu bereit sein, einer Diskussion über den Gewalteinsatz im wirklich äußersten Notfall nicht aus dem Weg zu gehen, und ihre Bereitschaft signalisieren, ihn – wenn er wirklich eingetreten ist – auch hinzunehmen; (b) müssen die Pazifisten auf eine äußerst restriktive Definition dieses Notfalls hinwirken und kompromisslos darauf bestehen, dass der menschenrechtliche Notfall (c) nach Maßgabe klarer Kriterien und auf der Grundlage überprüfbarer Fakten ausschließlich durch völkerrechtlich einwandfreie Instanzen festgestellt und (d) ebenso ausschließlich durch eine von der UNO organisierte beziehungsweise legitimierte Truppe beendet wird.
Mit anderen Worten: Das propagandistische Täuschungsmanöver der Kriegsbefürworter – die These, die Pazifisten schauten weg und retuschierten die Realität des Völkermords, um ihr eigenes Weltbild zurechtzubiegen – muss durch eine konstruktive Gegenstrategie wirkungslos gemacht und die Inszenierung eines „menschenrechtlich bedingten Notfalls“ um so wirksamer verhindert werden. Nicht die Pazifisten müssen beweisen, dass sie verantwortlich handeln, sondern umgekehrt müssten die Verfechter der „humanitären Intervention“ glaubwürdig den Nachweis erbringen, dass der menschenrechtliche Notfall tatsächlich eingetreten ist.
Allerdings braucht die Friedensbewegung eigene institutionelle Kapazitäten, um künftig derartige Inszenierungen zu verhindern. Auch in Zukunft dürfte es einem kleinen Kreis von Militärexperten und -strategen der Nato-Staaten unschwer gelingen, Regierungen, Parlamente und Parteien in eine neue Gewalteskalation hineinzuziehen. Dafür ist der Parteienstaat dank der eigenen Abhängigkeit von Vorgaben durch politisch nicht legitimierte „Experten“ strukturell besonders anfällig. So wurden die deutschen VolksvertreterInnen etwa erst drei Wochen nach Kriegsbeginn über den Inhalt des Rambouillet-Vertragstextes in Kenntnis gesetzt, in dem immerhin die Weichen für einen Angriffskrieg gestellt wurden.
Der Friedensbewegung kann daher nur geraten werden, offensiv für eine eigene und mit rechtlichen Kompetenzen ausgestattete Struktur einzutreten, etwa in Form eines Friedensrates. Dieser könnte als Gegengewicht zu den sicherheitspolitischen „Experten“ des Parteienstaates fungieren und deren monopolistischer Definitionsmacht in Fragen von Krieg und Frieden zivilgesellschaftlich entgegenwirken.
MOHSSEN MASSARRAT
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