: Die heilenden Hände in den Bergen
Über die Curanderos in der Alpujarra in Südspanien gehen die Meinungen auseinander. Die einen nennen sieKurpfuscher, die anderen Wunderheiler. Dennoch machen sich mittlerweile Reisende aus ganz Europa auf zu ihnen
von STEFFEN LEIDEL
Das Licht ist fahl im Raum, die Vorhänge sind zugezogen. Im Schein einer kleinen Schreibtischlampe sitzt José. Das dunkle, lichte Haar ist sorgsam nach hinten gekämmt, das leicht aufgeknöpfte Hemd frisch gebügelt. Um ihn herum, auf einfachen Holzregalen stehend, liegend oder unter kleinen Baldachinen, drängen sich unzählige Heiligenfiguren. Kleine und große, aus Holz geschnitzte oder aus Gips gegossene. Dazwischen immer wieder ein Kruzifix und in barocken Rahmen Bildnisse der Heiligen Jungfrau Maria. An den wenigen freien Stellen an der Wand hängen Fotos von Kindern, Frauen und Männern.
Ruhig, bewegungslos, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, hört José zu. „Aha, Diabetiker also“, sagt er leise. José ist wortkarg. Wenn er spricht, dann nur langsam, nach einem ausgedehnten Moment des Überlegens. José ist nicht zum Reden geboren, sondern zum Heilen. Er ist ein Curandero, ein Heiler, der weit über die Grenzen seines Dorfes hinaus den Ruf genießt, jede Krankheit durch Handauflegen oder das Sprechen eines Gebets wenn nicht heilen, so doch zumindest lindern zu können.
Das Phänomen des Curanderismus ist in ganz Spanien verbreitet. Man schätzt, dass über 15 Prozent der Spanier schon einmal von einem Curandero behandelt wurden. Trotz unterschiedlichster Methoden ist allen Curanderos eines gemeinsam: ihnen wird eine außergewöhnliche, fast übernatürliche Gabe, zu heilen, zugeschrieben, im Volksglauben respektvoll Gracia genannt. Sie kann nicht erlernt werden, sondern ist eine gottgegebene Eigenschaft.
Besonders populär sind die Curanderos in der Alpujarra, wo Folklore, Volkstümlichkeit und Volksmedizin noch heute eine wichtige Rolle spielen. Die Region an den fruchtbaren Südhängen der Sierra Nevada ist vom Massentourismus verschont geblieben. In den Dörfern, die wie kleine Schwalbennester hoch oben an den steilen, terrassierten Berghängen kleben, sind die Gassen eng und verwinkelt, gesäumt von weiß gekalkten Häusern mit Flachdächern aus großen Schieferplatten. Fern von den großen Städten wie Granada oder Málaga leben die Bewohner nach ihrem eigenen Rhythmus. Die Alpujarreños haben noch heute den Ruf, ein Menschenschlag der ganz besonderen Art zu sein. Ihre Zurückhaltung wird oft als Unfreundlichkeit missverstanden. Viele misstrauen allem Neuen, halten fest an Altbewährtem. Die Alpujarra war schon immer ein Rückzugsgebiet für Verfolgte. Früher waren es die Mozaraber, die Christen unter der Maurenherrschaft, und dann die Mauren, die nach der Rückeroberung vor den katholischen Königen und ihren Soldaten in die Berge flohen. Heute sind es Engländer, Deutsche und Franzosen, die dem Stress der modernen Gesellschaft entfliehen wollen.
Seit seiner Geburt lebt José in dem 100-Seelen-Dorf Almegíjar. Die Fahrt dort hinauf führt über unzählige Serpentinen, ein unscheinbares, rostzerfressenes Schild weist den Weg. José hat viele Besucher, die aus allen Gegenden Spaniens kommen, und das, obwohl er nicht einmal im Telefonbuch steht. Früher war José Automechaniker, heute lebt er ausschließlich vom Heilen und hat es zu einem kleinen Vermögen gebracht. Sein Haus ist das größte und modernste im Dorf, in dem er nur wenige Freunde hat. Die anderen begegnen ihm mit Misstrauen und Neid. Für die meisten ist er ein Extraño, ein Seltsamer.
Auf die Frage, warum und wie er mit seinen Händen heilen könne, legt José die Stirn in Falten und zuckt mit den Schultern. Für ein übernatürliches Wesen halte er sich jedenfalls nicht. „Ich bin nur das, was die Leute in mir sehen“, sagt er bescheiden. Es sei sogar schon das Fernsehen da gewesen und habe ihm Geld geboten, damit er das Geheimnis seiner Heilkunst lüfte. Dabei stellt sich für ihn die Sache ganz einfach dar. Er glaube an seine Macht, zu heilen, wie der Komponist an seine Musik oder der Arzt an die Wissenschaft glaube. Gott wisse, welche Fähigkeiten er einem Mensch zukommen lasse.
Dennoch verleiht der eigene Glaube allein dem Curandero keine Legitimität. „Er muss von der Gesellschaft als solcher anerkannt sein“, betont Rafael Briones, Professor für Ethnologie an der Universität Granada. Und die gesellschaftliche Anerkennung bekomme er nur, wenn er wirkliche Heilerfolge aufweisen könne. Dies sei auch das Kriterium, um einen „echten“ Curandero von einem Scharlatan oder Kurpfuscher zu unterscheiden.
Dass dieser Mechanismus funktioniert, zeigt die Entlarvung eines Möchtegernheilers in der Nähe des Städtchens Orgiva, der größten Ortschaft der Alpujarra. In einer baufälligen Berghütte führt Manuel ein Einsiedlerleben. An den Wänden hängen durchlöcherte Plastiktüten mit selbst gesammelten Heilkräutern, die einen penetranten Geruch nach ätherischen Ölen verströmen. Auf einer Schnur sind Orangenschalen zum Trocknen aufgereiht, die den Appetit essfauler Kinder anregen sollen. Manuel erzählt, er habe schon berühmte Persönlichkeiten von ihren Leiden geheilt. Beim Sprechen lässt er eine speichelgetränkte Zigarre zwischen seinen Lippen hin- und herrollen. Unter Schwierigkeiten versucht er mehrfach den Namen eines, wie er behauptet, bekannten Popstars auszusprechen. Doch auch mehrmaliges Nachfragen und Hinhören lässt nur erahnen, dass es sich wohl um einen englischen Namen handelt. „Der aus Amerika eben“, winkt er ab.
Manuels skurrile Erscheinung erregte das Aufsehen des andalusischen Fernsehsenders Canal Sur. Er wurde zu einer Sendung eingeladen, in der er mit der Heilkraft seiner Kräutermischungen prahlte. Der Erfolg stellte sich prompt ein. Nach der Sendung blockierten lange Autoschlangen die Straße vor Manuels Haus. Der Zustand währte jedoch nur einen Monat. Danach blieben die Patienten fern.
Natürlich gebe es immer wieder Personen, die sich am Leiden anderer bereicherten, bedauert Rafael Briones. „Authentische Curanderos“ scheuten die Medien, lebten zurückgezogen und zeichneten sich durch Bescheidenheit aus. Dennoch: Die Tatsache, dass Curanderos Kranke vornehmlich durch Handauflegen behandeln, wird von vielen belächelt. Viele Ärzte warnen vor dem Gang zum Curandero. Für den Naturmediziner Dr. Javier Guerrero mit einer Praxis in Orgiva sind die meisten Curanderos einfach nur geldgierige Scharlatane. Erst vor kurzem habe er einem Patienten mit Kehlkopfkrebs in fortgeschrittenem Stadium das Leben gerettet, der monatelang von José erfolglos behandelt worden sei. Für Guerrero handeln Curanderos verantwortungslos und unmoralisch, wenn sie vorgeben, solch schwere Krankheiten heilen zu können.
Allen Warnungen der Mediziner zum Trotz, die Nachfrage nach Wunderheilern ist ungebrochen. Für die Ethnologen ist dies nur die Antwort auf eine im extremen Maß vergeistigte und verwissenschaftliche Gesellschaft, in der alles Subjektive und Irrationale als primitiv und anachronistisch verworfen wird. Bis Anfang des 16. Jahrhunderts konnte man noch keine klaren Grenzen zwischen dem Curanderismus und der modernen wissenschaftlichen Schulmedizin ziehen. Erst mit dem Aufkommen des Rationalismus und der Etablierung der Ideen von Descartes entstand eine dualistische Sichtweise des Menschen als ein Wesen, bestehend aus Körper und Seele. Die Schulmedizin begann, den Körper als Maschine aufzufassen, der mechanischen Gesetzen unterworfen ist.
„Der Arzt sieht oft nicht den Menschen, sondern nur eine Reihe von Symptomen, die es zu eliminieren gilt. Er hat einfach nicht die Zeit, sich mit dem Patienten auseinander zu setzen“, sagt Briones. Obwohl die Curanderos meist unstudierte Personen sind – viele sind Analphabeten –, begeben sich hoch gebildete Anwälte und sogar Ärzte in ihre Hände. Bei seinen Untersuchungen hat Briones eine besondere Fähigkeit der Curanderos festgestellt, auch die sozialen und psychischen Aspekte der Krankheit wahrzunehmen. Außerdem verstünden sie es, den Patienten mit einer sinnhaften Welt, dem Heiligen, in Kontakt zu bringen, und übten so eine starke transzendale Kraft auf die Kranken aus. Im Gegensatz zu einem Arzt arbeitet der Curandero nicht mit technischem Gerät, sondern mit religiösen Symbolen und Ritualen.
Inzwischen ist ein schwacher Wind aufgekommen, der die Vorhänge hin- und herbewegt. José schließt die Augen, atmet hörbar ein und legt dem Diabetiker die Hände auf den Oberbauch. Dann murmelt er etwas vor sich hin und beschreibt mit seinen Händen ein Kreuz auf dem Bauch des Patienten. Danach setzt er sich an seine alte Schreibmaschine: „60 g frische Kapern in einem Liter Wasser aufkochen, abseihen. Von dem Sud jeden Morgen in nüchternem Zustand zwei Teelöffel einnehmen.“ Der Besuch ist zu Ende, der Patient fragt nach dem Preis. „Wie viel du willst“, sagt José und fügt schnell hinzu: „Du musst aber nicht.“ Den angebotenen Schein will er nicht nehmen und deutet auf ein kleines Körbchen. „Das holt dann meine Frau. Ich berühre das Geld nicht, sonst verliere ich meine Gracia.“ Gracias.
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