: Das Gesicht eines Krokodils
Sebastian Haffner war schon zur Zeit des Nationalsozialismus ein außergewöhnlicher Publizist und Historiker. Er emigrierte, ohne persönlich bedroht zu sein. Im Exil verfasste er eine bittere Bilanz der Jahre 1914 – 1933, die jetzt endlich erscheint
von KLAUS BITTERMANN
Die meisten Menschen, die aus Nazideutschland flüchteten, hatten keine andere Wahl. Sie wurden verfolgt, weil sie Juden waren oder der falschen Partei angehörten oder einfach zeitig die Nationalsozialisten kritisiert hatten. Selten war es dagegen, dass einer das Land verließ, dessen Leben nicht unmittelbar gefährdet war, ja dass einer eine glänzende Karriere aufgab, weil er ahnte, worauf der Nazismus hinauslaufen könnte.
Sebastian Haffner gehörte zu diesen Ausnahmen. Er tat unter außergewöhnlichen Bedingungen das eigentlich Selbstverständliche und bewahrte so seine persönliche Integrität. Das hört sich schlicht an, aber wenn man bedenkt, dass es, wie Hannah Arendt einmal schrieb, „im Dritten Reich nur wenige Menschen [gab], die die späteren Verbrechen des Regimes aus vollem Herzen bejahten, dafür aber eine große Zahl, die absolut bereit waren, sie dennoch auszuführen“, dann wird klar, dass Haffner einer bemerkenswerten Minderheit angehörte, die sich nicht mit dem Regime arrangierte und sich letztlich dem Machtbereich Hitlers entzog.
1939, also im Jahr seiner Emigration nach London, verfasste der erst 32-jährige Haffner seine „Erinnerungen“ an die Jahre 1914 bis 1933, die, wie schon seine in der gleichen Zeit entstandene Innenansicht Deutschlands „Germany: Jekyll & Hyde“, ein beeindruckendes und herausragendes zeitgeschichtliches Dokument sind. Haffners brillante Analyse erschien damals natürlich nicht in Deutschland, aber auch die englische Ausgabe blieb unpubliziert und wurde erst jetzt im Nachlass entdeckt.
Haffner bewertet in seinen Erinnerungen die „Stresemann-Epoche“ von 1924 bis 1929 als „die einzige echte Friedenszeit“. Es habe kein Bedarf an Erlösern bestanden wie noch während der Inflation, und jeder war „herzlich eingeladen, sich das Leben nach seinem Geschmack einzurichten“. Aber genau in dieser Situation, in der jeder die Möglichkeit hatte, nach seiner Façon glücklich zu werden, entdeckt Haffner ein massenpsychologisches Phänomen: Eine ganze Generation in Deutschland wusste „mit dem Geschenk eines freien Privatlebens nichts anzufangen“. Die Deutschen, so Haffners originelle Analyse, wurden mürrisch und warteten „geradezu gierig“ darauf, die „Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten.“
Als Vorbote des Massenwahns identifiziert Haffner den „Sportfimmel“, der Mitte der Zwanzigerjahre Mode wurde, und dem auch er selbst erlag. Nicht anders als heute waren die Politiker voll des Lobes über die „Massenverblödung der Jugend“, die eine Art Vorbereitung auf die Ereignisse gewesen seien, in deren Zentrum eine abstoßende Figur rückte: „die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick“. Die Leute, so Haffner weiter, die Hitler „1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße Feuer geben zu lassen“.
Was Historiker eher als unseriöse subjektive Anwandlung abtun würden, macht die Stärke Haffners aus: Es wird dadurch deutlich, wie unglaublich komödiantisch und lachhaft Hitler gewesen ist und dass selbst seine Anhänger dies wussten. „Kein Mensch“, polemisiert Haffner, „hätte sich gewundert, wenn dieses Lebewesen bei seiner ersten Rede von einem Schutzmann am Kragen genommen und irgendwo abgestellt worden wäre, wo man nie wieder etwas von ihm sah und wohin es ohne Zweifel gehörte.“ Aber statt in einer geschlossenen Anstalt zu landen, begannen die Menschen, sich durch „das Monstrum“ faszinieren zu lassen.
Je mehr diese Faszination um sich griff, je mehr Leute sich auf die Seite des Siegers schlugen, desto mehr sank die Lebensfreude in Deutschland. Die Zeit des harmlosen Tuns und Treibens, der Leichtigkeit des Seins für einen Jugendlichen wie Haffner war vorbei. Der brutale und lärmende Auftritt der Nazis lässt sich auch nicht mehr aus dem Leben verbannen. Haffner, der genau dies versucht hat, erlebt den Zusammenbruch seines privaten Konzepts auf unangenehme Weise, als Braununiformierte die juristische Fakultät auf der Suche nach Juden stürmen. In seine Bücher vergraben, versucht Haffner diesen Vorfall zu ignorieren, bis „das Gesicht eines Krokodils“ vor ihm auftaucht und ihn anherrscht: „Sind Sie arisch?“ und Haffner mit „Ja“ anwortet. Die Demütigung, „Unbefugten auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch“, und wie alle um ihn herum den Kopf einzuziehen, bestärkte Haffner ganz wesentlich in seinem Entschluss, Deutschland zu verlassen.
Wie sinnlos und gefährlich es war auszuharren, führte ihm jedoch das Verhalten von fünf Freunden vor Augen, mit denen er studiert hatte und ritterlich-akademische Debatten führte. Revolutionäre und nationalistische, konservative und individualistische Ansichten lagen dabei im friedlichen Wettstreit und zunächst spielten weder Gesinnung noch Herkunft eine Rolle. Das änderte sich, als einige der hoffnungsvollen jungen Leute die Nazi-Verbrechen zu legitimieren begannen und mit einer selbstgefälligen Amüsiertheit feststellten, dass unter den „jüdischen Freunden natürlich eine gewisse Nervosität herrschte“. Die Rassenlehre wurde plötzlich mit der Notwendigkeit der „völkischen Homogenität“ gerechtfertigt, die Morde der Nazis wurden als Petitessen abgetan, vernachlässigbar angesichts des sich vollziehenden „gewaltigen Akts in der deutschen Volkwerdung“. Keiner der Freunde scherte sich darum, dass einem von ihnen faktisch die Existenzberechtigung abgesprochen wurde, weil er Jude war. Die von den Nazis ausstrahlende absolute Kälte, Arroganz und Mitleidlosigkeit hatte sich auch in diesen engsten seiner Kommilitonen eingeschlichen. Und das war der eigentliche große Triumph des Nationalsozialismus: die Vernichtung des Privaten.
Haffner sieht seine Geschichte als „ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern“, einem „überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann“. Und dieser kleine Privatmann will nichts weiter, „als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet“. Haffner ließ sich auf diesen ungleichen Kampf ein, weil die Nazis die Feinde all dessen waren, was ihm lieb und teuer war. Worüber er sich, und nicht nur er, vollkommen täuschte, war, „wie furchtbare Feinde sie sein würden“. Obwohl keine besondere intellektuelle Befähigung vonnöten war, um die Nazis nicht zu mögen, gab es nur wenige, die eine Zusammenarbeit mit den Nazis ausdrücklich ablehnten. Sebastian Haffner versucht diese Erfahrung – dieses „Rätsel“ – in seinen „Erinnerungen“ zu erklären. Dabei führt er uns aufschlussreich vor, wie sich die nazistische „Weltanschauung“ in jedem Alltagsbereich einnistete und dem normalen Leben die Luft abschnürte.
Sebastian Haffner: „Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933“. DVA, Stuttgart/München 2000. 200 Seiten, 39,80 DM
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