Eine Nostalgiereise an die Quelle der Elbe

Ein Fluss mit neuem Image: Lachse schwimmen gegen den Strom zu ihrem Geburtsort, die Belastung ist deutlich gesunken. Seit die Elbe zum Weltkulturerbe erklärt werden soll, lässt die Romantik grüßen, denn: Wo sonst gibt es 600 Kilometer frei fließenden Fluss ohne Mauern und Barrikaden?

von CHRISTEL BURGHOFF

„. . . und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus“, dichtete der Romantiker Joseph Eichendorff. Versonnene Zeilen, die mir nicht aus dem Kopf gehen, die reinziehen in diese verträumte Stimmung, während wir in der kleinen Doppeldeckermaschine gen Riesengebirge fliegen. Immer dem Lauf der Elbe folgend, die hier in Tschechien „Labe“ heißt. Ein praller Sommertag geht dem Abend zu. Unter uns schlängelt sich der Fluss und glänzt im letzten Sonnenlicht manchmal auf. Die Felder haben die Muster hochfloriger Teppichböden. Man sieht die akkuraten Spuren großer Ackergeräte, die wie riesige Staubsauger die Landschaft gekämmt haben.

Die Elbe reizt zu Erinnerungen, als großer Strom, als Fluss durch die Zeit wird sie gern beschrieben. Selbst wenn verdiente Naturschützer wie Ernst Paul Dörfler vom BUND über ihr Engagement für die Elbe sprechen, bricht sich eine romantische Ader Bahn: „Wo gibt es das sonst“, sagt Dörfler nämlich, „600 Kilometer frei fließender Fluss ohne Mauern und Barrikaden?“ Und voll Feingefühl erklärt er dann, wie „schön, aber verletzbar“ die Elbe sei: Kein Fluss wie die Donau oder andere mit ihren Geröllbetten, die Elbe habe ein Bett aus weichem Sand. „Mit ihr kann man nicht so umgehen wie mit den anderen.“

Es geht hier um das Projekt „Lebendige Elbe“, das vor gut drei Jahren von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und dem Verlagshaus Gruner+Jahr initiiert wurde. Eine „Umweltpartnerschaft“ von Naturschützern und Sponsoren mit dem Ziel, die Elblandschaften von der Quelle bis zur Mündung in die Welterbengemeinschaft der Unesco einzureihen, gleichberechtigt mit solchen klingenden Namen wie Theben, Galapagosinseln, Mount Everest. Alles Orte, die die Unesco als ausgesprochen einzigartig und deshalb als erhaltenswert für die Menschheit definiert. Logisch, dass auch diese Idee reichlich verträumt erscheint. Immerhin galt die Elbe als eine europäische Abwasserrinne. Noch im Jahr der Grenzöffnung 1989 soll ihre Wasserbeschaffenheit etwa dem Zustand der maximalen Belastung des Rheins in den schlimmen Siebzigern entsprochen haben. Die Fakten: Von ihrer Quelle im Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee ist sie 1.091 Kilometer lang, auf den ersten 364 Kilometern durchfließt sie die Tschechische Republik, hier auch die Industriezone des Prager Beckens. Wie uns Manfred Simon von der Internationalen Kommission zum Schutz der Elbe (IKSE) näher erläutert, ist sie in Tschechien durch fast dreißig Staustufen und große Wehre verbaut, und sie muss Unmengen Abwässer verdauen, vor allem von Chemiebetrieben und Zellstofffabriken. Hinzu kommen die so genannten diffusen Einträge aus der Landwirtschaft und die trüben Gewässer der Zuflüsse, allen voran der ungleich längere Moldau, die bei Melnik in die Elbe mündet.

Tags darauf stehen wir an ihrer Quelle. Schlichtes, gemauertes Rund im Stil eines klassischen Brunnens. Einige Münzen liegen darin. Etwas seitwärts sind in eine Felswand die bunten Wappen aller größeren Städte eingelassen, die an der Elbe liegen. Dresden, Dessau, Magdeburg, Hamburg und viele andere in Formen und Motiven, wie sie noch gern als Souvenirs verkauft werden, als kleine Anhänger für kleine silberner Armbänder kleiner Kinder. Zwar entspringt die Elbe im Hochmoor des Riesengebirges (Krkonose) und speist sich aus vielen kleinen Quellen, aber hier ist es offiziell, auf genau 1.384 Meter Höhe. Hierhin pilgern Touristenscharen wie zu einem Nationalheiligtum. Jan Stursa, wissenschaftlicher Leiter des Nationalparks Riesengebirge, spricht von jährlich 8 bis 9 Millionen Parkbesuchern und erläutert Versuche einer „Rekonstruktion“ der ursprünglichen Flora auf Fichtenhängen, die inzwischen durch Borkenkäfer und die Industrieabgase aus Sachsen, Westböhmen und Schlesien ruiniert sind.

Landschaften wie dieser Nationalpark mit der dominierenden Silhouette der Schneekoppe (Snezka), die man gemeinhin von Müsliriegeln und anderer gesunder Reformhauskost kennt, sind die Grundlage für das Welterbe-Projekt: eine landschaftliche Rarität (Nationalpark bereits seit 1963, auch auf der polnischen Seite des Gebirges), in der die Elbe noch in ihrer ursprünglichen Umgebung fließt. Oder, auch ein „Baustein“, die Böhmische Schweiz. Auch wenn sie Tschechien verlässt, säumt ein Nationalpark die Route des Flusses; der derzeit jüngste wurde am 2. Juni eröffnet. Daran schließt auf deutscher Seite direkt der Nationalpark Sächsische Schweiz (seit 1990) an, hervorgegangen aus einem der Großschutzgebiete, die Bundesumweltminister Töpfer seinerzeit als das „Tafelsilber“ der Wiedervereinigung bezeichnet hat. Die Parks liegen im Elbsandsteingebirge, einer zerklüfteten, bizarren Felslandschaft, die, von Romantikern, Dichtern, Malern, Kletterfans und Touristen gleichermaßen geliebt und in Massen heimgesucht, lange schon in der Sehnsuchtsgeografie der Deutschen festgeschrieben ist. Vor 200 Jahren war der Maler Caspar David Friedrich in den heutigen Nationalparks unterwegs und malte diese Landschaften wie archaische Chiffren.

Insgesamt fünf Nationalparks nennt der Chef der deutschen Umwelthilfe, Gerhard Thielcke, und rechnet dabei die Gebiete Niedersächsisches und Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer mit ein. Hinzu kommen zwei Unesco-Biosphärenreservate, eines davon ist die Flusslandschaft Elbe. Dann gibt es noch zwei Naturparks und eine große Zahl kleinerer Areale unterschiedlichen Schutzgrades in Auenwäldern und an Uferabschnitten, die mit vielerlei Projekten, vom Storchenschutz bis zur Förderung des Biolandbaus, verbandelt sind. Wenn Prof. Thielke schließlich auf die kulturellen Preziosen entlang der Elbe zu sprechen kommt, etwa die „Lutherstadt“ Wittenberg oder die Bauhausstätten in Dessau (sie stehen bereits im Rang von Unesco-Welterbe-Kulturstätten), dann wird auch der Chef der Umwelthilfe poetisch und lässt sich gern zu dem Vergleich mit „Perlen an der Schnur“ verleiten. Dass dieses gediegene Schmuckstück Flusslandschaft die wohlwollende Zustimmung der Unesco-Gremien finden wird, steht für Thielcke außer Frage.

Und etwas Besonderes ist die Elbe in der Tat: Historisch gesehen symbolisierte sie immer die Grenze zwischen West- und Osteuropa. In Niedersachsen verlief entlang dem Fluss die deutsch-deutsche Grenze. Das erklärt ihre Sonderrolle, nämlich gleichzeitig relativ unverbaut geblieben und trotzdem verdreckt worden zu sein. Als Nutznießerin der Nachkriegsära konnte sie sich eine geradezu anachronistische Naturnähe erhalten: Auenwälder, Überschwemmungsgebiete, ihre sandigen Ufer, ihr freier Lauf blieben auf ungewöhnlich lange Distanzen unangetastet, vor allem im Bereich „mittlere“ Elbe. Ihr Pech dagegen war, dass sich für den Zustand des Flusses niemand so recht interessierte. Verdreckt kam sie schon in der DDR an und spuckte dann ihr ganzes Gift im Westen aus. Jetzt hat sie von der politischen Wende profitiert: Man kümmert sich um sie – gewollt und ungewollt.

Ungewollt war der Niedergang großer Industrien im Osten, allen voran der Zellstoffindustrie. Gewollt hingegen ist der Bau von zahllosen Kläranlagen. Allein der Quecksilbereintrag ging um 90 Prozent zurück, erklärt Manfred Simon vom IKSE. Ähnliches gelte für andere schwere Gifte: Die Bleieinträge konnten halbiert werden, desgleichen die Phosphorbelastung. Die Gewässergüte bewege sich inzwischen im mäßig belasteten so genannten Normalbereich. Nicht zuletzt deshalb, weil eine Zusammenarbeit der Naturschützer und der deutschen und tschechischen Behörden möglich wurde, konnten kontinuierlich Schutzgebiete entlang der Flusstalauen eingerichtet werden.

Allerdings rühren sich, seit die Elbe wieder zur Disposition steht, auch die Begehrlichkeiten der Wasserverkehrswirtschaft: Sie wünscht sich den Ausbau zu einer Bundeswasserstraße nach EU-Norm, Ziel ist die Vollschiffbarmachung. Vor allem bei Magdeburg wird derzeit zwischen Naturschützern aller großen Umweltverbände und dem Bundesverkehrsministerium um einzelne Schritte gerungen, gehen doch viele „Korrekturen“ der Elbe an die Substanz. Wenn etwa, so Dörfler vom BUND, der Magdeburger Domfelsen weitläufig gesprengt werde, breche damit auch eine natürliche Stütze für den Wasserspiegel wie auch für das sandige Flussbett weg.

Nicht nur Umweltschutzgründe, auch die stark rückläufigen Frachtaufkommen sprechen inzwischen gegen die großen Elbe-Ausbaupläne. Vielleicht, so die Hoffnung der Deutschen Umwelthilfe, kann das Unesco-Label in den Auseinandersetzungen auch einen praktischen Naturschutzeffekt entfalten, nämlich als Argument gegen weitere Eingriffsplanungen. Ein Naturschutzprojekt ist das Welterbe nämlich nicht. Es ist nicht verbindlich, der Unesco stehen keine Sanktionen zur Verfügung. Sie kann ihre Ehrenauszeichnung allenfalls wieder aberkennen.

Vielleicht nützt die Unesco auch der Wiederbelebung des Flusses selbst. Denn es ist kein Witz, dass seit der allmählichen Genesung des Stroms auch wieder die Lachse zu ihren Ursprungsbächen aufsteigen, so wie es früher, noch vor 60 Jahren, völlig normal war. Natürlich wurde hier nachgeholfen: mit über eineinhalb Millionen importierten Lachslarven und jahrelanger Aufzucht in Elbezuflüssen – bis die ersten Jungfische sich ihren Weg ins Nordmeer suchten und dann tatsächlich im Herbst 1998 zum Laichen zurückkehrten. „Lachsvater“ Ermisch aus der Sächsischen Schweiz, der die Brut in Sebnitz und Polenz freisetzte, wurde nach dem Erfolg von den Medien verwöhnt. Dass dieses Projekt auch in Tschechien weitergeht, führen uns die Organisatoren nahe der deutschen Grenze vor.

In Hrensko, dem so genannten Klein-Vietnam, reihen sich nicht nur Verkaufsstände asiatischer Händler an Straßen und Ufer, hier mündet auch der Fluss Kamnitz (Kamenice) in die Elbe. Er hat eine zauberhafte Schlucht ins Gebirge gewaschen, die wegen ihrer steil aufragenden Felsen, ihrer üppigen Vegetation und des malerischen Bergbachverlaufs vom Tourismus schon lange erschlossen ist. Ein touristisches Highlight, dem man kaum zutraut, dass es auch Schauplatz eines weiteren Experiments der Lachsansiedlung ist. Schon in diesem Herbst werden die ersten Rückkehrer erwartet.

Hier schlendern wir durch die Edmundsklamm und schaukeln schließlich auf Gondeln geruhsam und fast geräuschlos durch ihren so genannten stillen Teil bis zum Ausflugslokal in der überlieferten böhmischen Volksarchitektur.

Aber sichergestellt ist die Wiederansiedlung des Lachses längst nicht. „Dafür brauchen wir mindestens zehn Zuflüsse“, meint Roberto Epple von River Networks, der mit ähnlichen Projekten an der Loire Erfahrungen gesammelt hat. „Wenn nur in einen dieser Bäche giftige Abwässer gelangen, dann ist ja gleich der ganze Bachbestand zerstört.“

Und wir lernen auch die physischen Grenzen dieser Wiederbelebung kennen: An der Staustufe Strekov bei Usti ist nämlich Schluss mit Wandern. Bald 10 Meter hoch ragt eine Betonmauer vor uns auf. Sie würde jedem Stausee Ehre machen. Es ist die derzeit letzte Staustufe Tschechiens vor der deutschen Grenze und es ist die höchste. Die schafft – bei aller Hochachtung vor seiner Leistungsfähigkeit und seiner bedingungslosen Heimatsehnsucht – kein Lachs.

Zurück in Dresden: Keine andere europäische Stadt, die ihren Fluss nicht in Steinmauern gepresst hat. Dresden lässt die Elbe frei fließen, ihre Ufer sind wiesengesäumt. Auf der Terrasse der Semperoper drängeln sich Operngäste, sie blicken zum Fluss und in die untergehende Sonne hinein. Eine klassische Szene wie bei dem Maler Friedrich mit dem unvergänglichen Thema „Eine Landschaft und ihr Publikum“.

Auch in Dresden wird weiter die alte Pracht und Herrlichkeit aufgebaut. Hier ist sie der Wiederbelebung des Kulturschönen verpflichtet. Die Ähnlichkeiten zur Bewahrung der Elbeschönheit liegen jedoch auf der Hand. So könnte sich irgendwann jede Elbreise als ein Nostalgieprogramm von Feinsten herausstellen – Lachsmenüs inklusive.