: Die Opfer reden
Dokumentarfilm „Spiegelgrund“ über Euthanasie und Deportation aus Alsterdorf ■ Von Andreas Speit
Nach jahrelangen Nachforschungen erfährt die Hamburgerin Antje Kosemund 1994, dass das Gehirn ihrer Schwester Irma Sperling in einer Kammer des Wiener „Psychiatrischen Krankenhauses Baumgarten Höhe“ aufbewahrt wird. Die Geschichte des kurzen Lebens ihrer Schwester und des langen Kampfes um die Beisetzung ihrer Überreste erzählt der Film Spiegelgrund von Angelika Schus-ter und Tristan Sindelgruber.
In den Morgenstunden des 16. August 1943 wurde Irma Sperling zusammen mit 227 Mädchen und Frauen in Bussen von den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg zur Wiener Klinik Steinhof – heute das Psychiatrische Krankenhaus Baumgarten Höhe – deportiert. Knapp fünf Monate später starb die 13-Jährige in der angegliederten Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund nach „medizinischen Experimenten im Dienst der Wissenschaft“. Ihre Leiche wurde obduziert, das Gehirn von dem Wiener Psychiater Heinrich Gross präpariert, der eine 300 Gehirnpräparate umfassende Kammer anlegte.
„Ein Jahr später“ sagt Kosemund, kam die Sterbeurkunde auf der die typischen Todesursachen für NS-Euthanasie-Morde stand – Grippe, Lungenentzündung – und eine Rechnung: 2.529.50 Reichsmark. Über sechs Jahre lang setzt sich die 71-Jährige, unterstützt von Michael Wunder von den Alsterdorfer Anstalten, für die Freigabe der sterblichen Überreste ihrer Schwester und der anderer Opfer ein. 1996 werden diese und die neun weiterer Mädchen bei einer Gedenkveranstaltung für die insgesamt 508 Opfer der Anstalten beigesetzt.
Aber auch die Geschichte von Wilhelm Roggenthiens wird neben zwei weiteren Lebenswegen von Opfern der Kinder“heil“anstalt und deren Angehörigen in dem, beim Festival des österreichischen Films DIAGONALE in Graz 2000 uraufgeführten, Film erzählt. Dem Hamburger gelang es 1943, aus den Als-terdorfer Anstalten auszubrechen, um seine nach „Steinhof“ deportierte Freundin zu befreien.
Bewusst beschränken sich Schuster und Sindelgruber auf vier Betroffene der NS-Euthanasie, damit es den ZuschauerInnen möglich wird, sich an die unterschiedlichen Erzählweisen heranzutasten und sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Sachlich-vorsichtig vermittelt sich eine emotionale Betroffenheit, die weder spektakulär, noch moralistisch inszeniert wird. Auf wirkungsvolle Weise lassen die FilmemacherInnen die Opfer und Betroffenen selbst ihre Geschichte darstellen. Nur ergänzend beschreiben ExpertInnen historische und politische Zusammenhänge.
Täter kommen in den 71 Minuten langen Film kaum zu Wort. Zwar wird beispielhaft der Fall Gross erkundet. Nach 57 Jahren beruflicher Tätigkeit als Psychiater und Gerichtsgutachter wurde am 21. März 1999 der Prozess gegen den ehemaligen Oberarzt der Kinderfachabteilung vor dem Wiener Staftlandgericht eröffnet, um ihn sogleich zu vertagen. „Mein Mandant kann dem Prozess nicht folgen“ hatte sein Strafverteidiger angeführt. Seitdem folgt Gutachten auf Gutachten. Doch viel reden dürfen die Täter nicht.
Die standen schon oft im Mittelpunkt filmischer Darstellungen über die Medizin ohne Menschlichkeit. „Wir sind zufällig auf zwei Menschen gestoßen“, erklären Schuster und Sindelgruber, „die nun im Mittelpunkt stehen: Frau Kosemund und Herr Roggen-thien.“ Mit ihrer Dokumentation haben sie auch das Schweigen über die NS-Euthanasie in Österreich gebrochen. Bis heute besteht kein gesetzlicher Anspruch auf finanzielle „Wiedergutmachung“ für alle Opfer des „Spiegelgrund“.
Die Willi-Bredel-Gesellschaft ermöglicht die heutige Aufführung, die Kosemund begleitet. Ein Fernsehsender wollte die Dokumentation bisher nicht ausstrahlen.
heute, 20 Uhr, Saal, Im Grünen Grunde 1
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