: Der neue Kick der Freundschaft
Den „Feiglingen“ aus dem Dorf macht es einfach Spaß. Das Aussiedlerteam „Del Piero“ kämpft verbissen. Und Alexandra joggt jetzt mit Natascha
von ANNETTE ROGALLA
Gewalt? Ist für Dimitri* kein Problem. Gewalt ist einfach da, gehört zum Leben. „Weißt du, wenn jemand Russe zu mir sagt, kriegt er eins in die Fresse.“ Dimitri ist mit der Schule fertig. Ein schmaler, drahtiger Typ, ziemlich klein für sein Alter. „Hier in Niedergörsdorf wird nicht lange geredet, da wird zugehauen.“
Zugeschlagen wird in der Nähe des TAF. Da hängt Dimitri abends ab. Die ganze Aussiedlerclique ist da. Der „Treff am Flugplatz“ ist der einzige Jugendclub in der Nähe.
Niedergörsdorf ist tiefste brandenburgische Provinz. Ein Dorf, dessen zwei Dutzend Ortsteile wie Splitter im märkischen Kiefernwald verstreut liegen, zwischen Treuenbrietzen und Jüterbog.
Das TAF steht auf der Seite von Niedergörsdorf, die sie woanders nur „Klein-Moskau“ nennen. Es ist jene Seite, wo der Aufschwung Ost noch keine nagelneuen BMWs vor die Tür gezaubert hat. Wo Frauen in ausgebleichten Kittelschürzen weite Unterhosen auf die Leine hängen und alte Männer unter Bäumen Karten spielen.
Gut 800 Einwohner leben im Ortsteil „Flugplatz“ – etwa 40 Prozent kommen aus den umliegenden Dörfern – die Mehrheit aus den Weiten der Ukraine, Russlands, Kirgisistans und Kasachstans. Aussiedler wie Dimitri. Für ihn und seine Russisch sprechenden Freunde ist das TAF der Schauplatz ihrer Jugend. Es gibt immerhin Poolbillard, eine Bar, einen Ringerraum und ein rosarot gestrichenes Zimmer nur für Mädchen.
Draußen vor der Tür sitzen die von der einheimischen Clique. Addi, Gerhard, Lisa. Sie sind auch vierzehn, sechzehn oder siebzehn. Sie haben zwar genau im Blick, was Dimitri und seine Kumpel so machen, trauen sich aber nicht rein ins TAF. „Bin ich blöd?“, fragt Alexandra. „Will ich, dass mir wieder einer von den Russen an die Wäsche geht?“ Dimitri hat sie geküßt, auf dem Schulhof. Als sie ihm die Saftflasche rüberreichte hielt er sie am Handgelenk fest und drückte ihr die Zunge in den Hals. Anschließend lachte er. „Ne, mit de Russen kannste nich reden. Die sind nur grob.“
Jeder hier erzählt, er bekäme dauernd eins auf die Nase.
Wer den Jugendlichen zuhört, kriegt mit, was tagtäglich zwischen den Cliquen abgeht. Sie werden um Zigaretten angegangen oder fies angemacht. Aus Furcht vor geschwollenen Nasen schweigen sie. Sie sind fest davon überzeugt: Wer sich gegen Aussiedlerjungs wie Dimitri stellt, lebt gefährlich.
Erpressung, Nötigung, Gewalt? Im TAF leuchten Jugendclubleiteraugen groß auf. Das kann sich Ulli Pohling nun wirklich nicht vorstellen. Das Verhältnis zwischen einheimischen und Aussiedlerkindern sei zwar schwierig, aber viele wollten den Aussiedlern doch nur Schlechtes nachsagen: „Alles Vorurteile. Die denken noch wie früher und glauben, die Russen kriegen alles hinterhergetragen.“ Vor sechs Jahren verließ die letzte russische Fliegerstaffel den Flugplatz von Niedergörsdorf. Da war Alexandra noch nicht einmal acht Jahre alt.
Irgendwie müssen in den vergangenen Monaten Sozialarbeiter, Gemeindepolitiker und der Landessportbund das ungesunde Klima zwischen den beiden Jugendgruppen bemerkt haben.
Und weil sie wissen, dass die Übergänge zwischen halbstarker Clique und krimineller Bande fließend sind, musste ein anständiges Deeskalationsprogramm her. Fußball. Wie sonst lassen sich in der Gruppe Grenzen austesten,Tabus brechen in einer Gesellschaft, die kaum mehr Tabus kennt? Wer setzt Grenzen, wenn Jugendarbeiter Weicheier sind, Eltern Warmduscher und Lehrer Prügelknaben? Am besten die Jugendlichen selbst. Straßenfußball heißt die Sportart. Früher wurde es einfach nur Bolzen genannt. Ein Ball, ein Feld, ein paar Kinder. Heute gibt man dem Ganzen einen feinen Namen, ein Konzept (siehe Interview und Hintergrund) und lässt Teams aus diversen Dörfern gegeneinander antreten. Das ist hip.
„Da wollen wir auch mitmischen“, sagt Gerhard, „mal ohne Trainer und Taktik ein Turnier spielen, das ist schon cool.“ Sein Team, die sieben „Feiglinge“, trainiert jeden Tag auf dem Bolzplatz hinter dem TAF. Was die vier Jungs und drei Mädels anfangs nur als kleine Abwechslung für sich dachten, wird jetzt zum nachmittagfüllenden Programm. Drei, vier Stunden dribbeln sie über die blank getretene Erde und kicken den Ball ins grob gestopfte Netz. Straßenfußball „macht Spaß, hält fit und schweißt die Clique zusammen“, sagt Alexandra.
Den „Feiglingen“ kommt es nicht auf den Sieg an. Sie sind begeistert, dass es Dorfturniere gibt, Kuchen und Brötchen nach dem Spiel und manchmal eine Erwähnung in der örtlichen Presse. Die „Feiglinge“ besetzen seit dem letzten Turnier den letzten Platz in der Gesamtwertung, Rang sechs.
Über so wenig Ehrgeiz kann Dimitri nur lächeln. Mit veschränkten Armen steht er an den Mülltonnen und spuckt in den Sand. „Wir sind die Besten“. Sowieso. Schließlich trainieren seine Freunde aus dem Team „Del Piero“ im „richtigen Fußballclub“. Und wie beim Stürmer-star von Juventus Turin geht es in Dimitris Team schon etwas eiserner zu. Bei den „Pieros“ spielen nur Aussiedler. Sechs Jungs und Natascha, 14. Jeder muss alles geben, damit die Mannschaft von Platz drei weiter nach oben kommt.
Außer Schule hat Natascha nur Sport, Sport, Sport im Kopf. Fast jeden Tag müht sie sich nach der Schule zwei Stunden lang im Sportcenter ab. Sie joggt, sie ringt. „Als Mädchen ist es hart, mit Jungs Fußball zu spielen. Wenn ich mal ein Tor verschieße, schreien sie mich an.“ Aber das nimmt sie in Kauf. Denn es macht auch ziemlichen Spaß, nur mit dem Können, das sie sich auf der Straße antrainiert hat, ein wenig zu protzen. Das hebt Nataschas Laune.
Was die Jungs nicht schaffen, fällt den Fußball spielenden Mädchen leicht. Sie freunden sich an. Alexandra von den „Feiglingen“ und Natascha von „Del Piero“ joggen miteinander um den Flugplatz. Sie haben längst den neuen Kick gefunden.
Derweil pflegen die Jungs ihre Feindschaft. Aber sie werden nachlässig, bemerkt Natascha. „Sie buhen den Gegner nicht mehr aus, so wie früher.“ Vielleicht werden irgendwann Gerhard und Dimitri nach dem Spiel gemeinsam einen trinken gehen. Einfach so. An der Bar, im Jugendklub TAF.
* Die Namen der Jugendlichen wurden geändert. die Red.
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