: Gefährliche Wahrheit
■ Die „Compangnie de l'oiseau mouche“ mit 20 geistig behinderten Akteuren
Eine Wahrheit kann nicht „gefährlich“ sein. Oder doch? Das behauptet jedenfalls Jean-Michel Rabeux, Regisseur der Compagnie de l'oiseau mouche, in der 20 geistig behinderte Schauspieler agieren. Denn letztlich ist alles eine Frage der Perspektive, und je dünnhäutiger Menschen werden, desto mehr Wahrheits-Partikel entdecken sie in der Welt, die irgendwann in etliche Facetten zerfällt. Schwierig wird es, wenn man es nicht mehr schafft, diese Facetten zusammenzubringen, wie der legendäre Beatlessche Fool on the Hill. Wenn man den Teil für das Ganze nimmt oder die Entfernung zwischen zwei disparaten Details nicht mehr überbrücken kann.
Und genau um diese Probleme kreist auch das Theaterstück „Le Labyrinthe“ der Compagnie de l'oiseau mouche aus dem französischen Roubaix, die am Rande der Fachtagung „Weltsichten“ zur Kunst behinderter Menschen (14. bis 16. 9.) auf Kampnagel auftritt: Einen Stier zerren sie im Stück in ihre Mitte, er wehrt sich, sie kämpfen, sie besiegen ihn. Und beginnen ein Labyrinth um ihn herum zu erschaffen, das zu ihm und von ihm weg führt.
Labyrinthgleiche Hirnwindungen könnten es sein, durch die der Einzelne ratlos irrt, Labyrinthe aus Beziehungen oder der Irrgarten einer einzigen Beziehung. Kurz: Das Verhältnis von Rolle und Authentizität, von äußerer und innerer Wahrheit wird hier umspielt – und vielleicht ist es das, was Regisseur Jean-Michel Rabeux meint, wenn er davon spricht, dass die Gruppe mit dem stummen Stück eine innere Wahrheit erreichen wolle, „die sich hinter unseren Geschichten verbirgt – eine unscheinbare Wahrheit, die zugleich gefährlich und sanft ist“. Gefährlich, weil sie auch dem Betrachter Abgründe zeigt. Sanft, weil sie ihm die Freiheit gibt, sein eigenes Labyrinth zu verwirren, als Teil der Normalität verstehen zu lernen, die für ihn Teil des Lebens ist, für die behinderten Künstler – das ganze. ps
Donnerstag, 20.30 Uhr, Kampnagel. Karten unter Tel. 390 94 52 bzw an der Abendkasse im Foyer der Halle K6
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