: Zärtlichkeit für Pinkel
■ Das Jahrbuch der Wittheit über „Feste und Bräuche in Bremen“ ist erschienen und erzählt mal schrullige, mal offiziöse, stets nachlesesnwerte Bräuche der Eingeborenen
Mit Sex, Drugs and Rock'n' Roll hatte die bremische Vergangenheit der Festkultur weniger am Hut. Trotz aller religiöser Verbohrtheit tauschte man auch hier eifrig Tanzkarten auf Abtanzbällen und forderte zum Menuettwalzer auf. Junggesellen fegten an ihren 30. Geburtstagen Domtreppen, und unter flimmernden Lichterketten in Verbindung mit einem süßlichem Duft aus der Mischung von Schmalzgebäck und Bratwürstchen tanzten, flirteten und tranken überhitzte Gemüter auf Schützenfesten. „Feste und Bräuche in Bremen“ lautet der Titel des eben erschienenen Jahrbuchs der Wittheit, der „Wissenschaftlichen Vereinigung Bremen“. In festlich rotem Einband präsentieren Prof. Hans Kloft und Dr. Martina Rud-loff eine Reise vom frühen Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert bremischer Feierlichkeiten. Junge und alte Wissenschaftler aus dem Bremer Umkreis wurden von den beiden Herausgebern dazu eingeladen, einen Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte Bremens zu schreiben. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop bunter Mikrokosmen: Schilderungen von ausschweifenden Hochzeitsfeierlichkeiten stehen neben Begräbnisritualen, Revolutionsfeiern, Nikolausläufen, Basaren, Freimärkten Abtanzbällen und Schützenfesten.
Das Jahrbuch ist ein Zeugnis stadthistorischer Liebhaberei. Auf 264 Seiten erläutern SpezialistInnen bremische Bräuche, und der geneigte Leser stößt beim Stöbern auf lebendige Anekdoten. Von Detlev Ellmers erfährt er zum Beispiel, dass der Bremer Freimarkt gar nicht kommerzieller Art war, sondern eine wohltätige Funktion hatte: Der Erlös aus der Tombola beim Basar des Frauen-, Erwerbs- und Ausbildungsvereines – einst Vorläufer des Freimarktes – war ein zentraler Beitrag der Armenfürsorge. Ansonsten waren es vor allem Kirchen und private Stiftungen, die sich wohltätigen Zwecken annahmen.
Augenzeugenberichte auswärtiger Kundschaft geben Außenperspektiven auf norddeutsche Gewohnheiten. So schreibt ein Chronist aus dem Jahre 1862 über den Pinkel: „Die Fremden denen man es vorsetzt, behaupten, dass eine starke Gewohnheit dazu gehöre, es genießbar zu finden, und sie verderben sich nicht selten den Appetit damit. Eingeborene BremerInnen aber haben eine gewisse Zärtlichkeit dafür ...“.
Während vergangene Jahrbücher sich mit dem fragwürdigen Zusammenhang von Bremen und den Niederlanden quälten, hat es die Wittheit in diesem Jahr geschafft, Forschungsergebnisse eines schönen und ansprechenden Themas einem Bremer Publikum in verständlichen Worten schmackhaft zu machen. Ein elitärer Spaß allerdings: Das Jahrbuch kostet 98 Mark. momo
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