piwik no script img

die stimme der kritikbetr.: Politik, gefühlvoll

Vorbild Eichel

„Indianer kriesche net“ sangen, lang ist’s her, die „Bläck Fööß“, womit nicht ausgesagt werden sollte, dass Indianer sich nicht kriechend fortbewegen (was auch eine krass wahrheitswidrige Behauptung wäre). Gemeint war vielmehr: Der Indianer weint nicht, er schluchzt nicht, er hat nicht einmal einen Kloß im Hals, wenn er am Lagerfeuer seiner Großeltern gedenkt, die in die ewigen Jagdgründe eingegangen sind.

Sind Politiker Indianer? Keineswegs. Sie gehören eher der weißen Gegenseite an, die, wenn überhaupt, eine sentimentale Beziehung zu den unterdrückten Naturvölkern hegt. Nicht umsonst trug der ehemalige Innenminister Zimmermann, im Übrigen ein Schwarzer, den Ehrennamen „Old Schwurhand“. Politiker dürfen also Gefühle zeigen, allerdings bei Parlamentsdebatten nur im Rahmen der zugelassenen Pathosformel. Hemmungslose Tränenausbrüche weisen auf eine verweichlichte Gemütsart hin, auf Gebräuche, wie sie bei den italienischen Heulsusen üblich, bei uns aber zu Recht verpönt sind.

Finanzminister Eichel hat sich in der vorgestrigen Debatte emotional genau im Rahmen des parlamentarisch Zulässigen bewegt. Nur ein unterdrücktes Schluchzen begleitete seine Erinnerung an die Großeltern in der vormaligen DDR, die er nach dem Fall der Mauer ohne Behinderungen in die Arme schließen durfte.

Das war die richtige Antwort auf die beleidigende Insinuation des CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, die SPD-Führung hätte es anlässlich dieses Freudentages wie überhaupt anlässlich der deutschen Einheit an der nötigen Leidenschaft fehlen lassen. Und dieser Vorwurf aus dem Munde eines Mannes, in dessen Adern nur Fischblut fließt! Merz’ Emotionen, so er je über welche verfügte, sind längst zwischen den Finanzdossiers vergilbt. Im Gegensatz dazu weiß Eichel alles über die emotionale Ansprache seines Publikums. Wer erinnert sich nicht seiner ausgebreiteten Arme, als er im Bundestag darlegte, die „Rückführung“ der Staatsschulden sei im Interesse des kleinen Mannes, eröffne sie doch Handlungsspielräume für soziale Politik.

Seid umschlungen, Millionen, das öffentliche Sparen wird euch glücklich machen! Diese Botschaft kam rüber, denn sie verband die Ratio mit (wohldosierter) Leidenschaft. Nur wer weder sieht noch hört, kann unseren Finanzminister des ärmelschonerbehafteten Bürokratismus zeihen! Nein, er ist ein Vorbild, auch für Schröder, diesen abgefeimten Florentiner! CHRISTIAN SEMLER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen