: Die Angst von damals ist noch immer lebendig
Heute erhält Andrej Pankovich in Hamburg den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“. Seine Familie hatte in der Ukraine zwei Juden jahrelang vor den Nazis versteckt ■ Von Sandra Wilsdorf
Es ist schon dunkel, als es an jenem Abend im September 1942 an die Tür klopft. Es ist Krieg, die Deutschen jagen Juden in der Ukraine. Andrej Pankovich macht auf. Draußen steht ein junger Mann, der den Vater sprechen will. Nikolai Pankovich geht hinaus, und als er wieder ins Haus kommt, ruft er die ganze Familie zusammen: die Mutter, den 15-jährigen Andrej, die 12 und 13 Jahre alten Schwestern. Der Vater erzählt ihnen, dass der junge Mann ein Jude sei, dass er und seine Freundin vor den Nazis fliehen müssten und gefragt hätten, ob sie sich bei ihnen verste-cken dürften. Der Vater sagt ihnen auch, dass sie alle ihr Leben riskieren würden, wenn sie ja sagten. Sie tun es trotzdem.
Die Familie lebt damals in einem Haus mit ein bisschen Landwirtschaft am Rande eines Dorfes in der Nähe von Kalusch, in der heutigen Ukraine. Zwei Jahre lang verstecken sie die beiden Juden auf dem Dachboden ihres Stalles, zwei Jahre lang wohnen der 22-Jährige und seine Freundin in einem Lager aus Heu und Stroh, können höchstens mal im Sommer nach draußen – und auch dann nur für ein paar Stunden und nur in den Wald. „Im Winter konnten sie überhaupt nicht raus, wegen der Spuren im Schnee“, erinnert sich Andrej Pankovich.
Er, seine Schwesten und die Eltern bringen den beiden Essen in dem Eimer, aus dem sonst die Kühe fressen. „Ich hatte eigentlich immer Angst, dass wir alle erschossen werden“, sagt Pankovich, der inzwischen 72 Jahre alt ist und mit seiner Frau Margarita in Altona lebt.
Heute wird er in Hamburg vom Staate Israel für das geehrt, was seine Familie getan hat. In der jüdischen Gemeinde in der Weidenallee erhält er die höchste Auszeichnung, die Israel für Nicht-Juden zu vergeben hat, den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“. Mit dieser Auszeichnung ehrt die Israelitische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Menschen, die in der Zeit des Naziregimes verfolgten Juden lebensrettende Hilfe gewährt haben. Sie erhalten eine Medaille, eine Urkunde und ihre Namen werden in den „Memorial Wall“ im „Garten der Gerechten“ in Yad Vashem eingraviert. Bis heute tragen etwa 16.000 Frauen und Männer aus aller Welt diesen Ehrentitel, 400 von ihnen sind Deutsche, einer von ihnen ist Oskar Schindler.
Andrej Pankovic findet, dass diese Ehrung so etwas wie Gerechtigkeit ist: „Ich bin stolz darauf, dass meine Familie zwei jungen Menschen das Leben gerettet hat.“ Er nimmt sie stellvertretend für die Eltern entgegen, die inzwischen gestorben sind, und für die Schwestern, die noch in der Ukraine leben.
Die Angst, die er damals hatte, ist immer noch lebendig: „Ich habe eigentlich immer aufgepasst, niemand durfte von den beiden Juden wissen, jeder hätte uns verraten können.“ Auch beim Spielen habe er immer irgendwie verhindern können, dass eines der zehn neugierigen Nachbarskinder in die Scheune läuft und das Geheimnis entdeckt. „Immer wieder durchsuchten SS-Männer Häuser und kamen auch immer wieder im unsere Nähe.“ Aber sie kamen nie nah genug. „Wir haben uns immer erschrocken, wenn es an der Tür klopfte.“
In Kalusch lebten damals etwa 2000 Juden. „Die Deutschen haben ein Ghetto aufgebaut, in das sie die Juden gepfercht haben. Nach und nach haben sie sie dann im Wald erschossen oder ins Konzentrationslager gebracht“, erzählt Pankovich. In diesem KZ Belzec starb die ganze große Familie von Josef Dischek. Er selber war dem Todeszug entkommen und konnte sich mit seiner Freundin Regina ein paar Wochen im Wald verstecken, bevor die Familie Pankovich die beiden aufnahm.
Russen und Deutsche liefern sich gegen Ende des Krieges einen erbitterten Kampf um die Stadt, bei der auch Haus und Hof der Pankovichs verbrennen. Sie überleben, mit ihnen noch eine Kuh und ein Ochse. Josef Dischek und Regina gehen zurück in die Stadt, später werden sie umgesiedelt nach Polen, noch später kommen sie nach Deutschland, und heute leben sie in Kanada. Zwischen beiden Familien bestehen noch immer enge Bande. „Unsere Enkelin aus der Ukraine war schon in Toronto“, sagt Margarita Pankovich. Und auch sie und ihr Mann waren schon dort. Briefe und Päckchen gehen regelmäßig hin und her.
Aber das ist heute, damals wird die Familie Pankovich erst einmal auseinander gerissen. „Mein Vater war seit einem Unfall im Salzbergwerk 1927 Invalide, er hatte schreckliche Verbrennungen erlitten und war seitdem sehr nervös. Er sagte, wenn ihm etwas nicht passte.“ An der Sowjetunion passt ihm manches nicht. Er verbringt elf Jahre in einem Arbeitslager, weit weg von Kalusch. Seine Frau und die Töchter verstecken sich jahrelang bei immer anderen Verwandten.
Andrej und sein Großvater werden nach Kasachstan gebracht. „Ich besuchte das Medizinische Institut, im zweiten Jahr. Und eines Tages kamen sie in die Schule“, sagt Andrej Pankovich. Er springt aus seinem Sessel: „Ich war so, wie ich jetzt bin: Hose, Hemd, sonst nichts. So haben sie mich weggeholt.“
Elf Jahre muss er in Kasachstan bleiben. Er arbeitet im Bergbau und lernt seine Frau Margarita kennen. „Wir kamen von der Krim und wurden nach Kasachstan vertrieben“, erzählt sie. Als Andrej seiner Frau und seinen zwei Kindern endlich seine Heimat zeigen kann, ist er ein erwachsener Mann und sein Großvater längst gestorben – ohne vorher noch einmal in das kleine Dorf bei Kalusch zurückgekehrt zu sein. Das bisschen Land gehört inzwischen nicht mehr der Familie, sondern der Kolchose.
Heute sind Sohn und Tochter von Andrej und Margarita Pankovich selber erwachsen. „Sie würden auch gerne nach Deutschland kommen, aber sie dürfen nicht“, sagt Margarita Pankovich. „Unser Sohn ist Tierarzt, aber es gibt dort keine Arbeit, manchmal hat er nicht genug Geld, Brot für seine Familie zu kaufen.“
Das Ehepaar Pankovich lebt in Hamburg in einer Gemeinschaft mit anderen Verwandten. Maria Nagrodzki, eine Kusine von Andrej Pankovich, wohnt nur ein paar Straßen weiter. Sie ist schon seit elf Jahren in Hamburg, ihr Sohn auch. „Wir haben es hier viel besser“, sagt Margarita Pankovich und strahlt. Auf dem Tisch stehen lauter gute Sachen aus ihrer Heimat. „Die habe ich alle mitgebracht, ich war gerade auf Urlaub zu Hause“, sagt ihr Mann. Bei den Kindern, Enkeln und Urenkeln, da wo es die Wurst, die Tomaten, den Likör und die Schokolade gibt, die er nur zu gerne teilt. „Das ist üblich bei uns“, sagt er, als wäre das irgendwie auch eine Erklärung für das, was seine Familie getan hat.
Heute wird nicht nur Andrej Pankovich zu einem „Gerechten unter den Völkern“. Ein zweiter Titel geht an die Hamburgerin Helene von Schell, die Ende der Zwanziger Jahre nach Berlin umzieht. Weil sie bereits 1956 gestorben ist, nimmt eine Kusine die Ehrung für sie entgegen. Helene von Schell hat in ihrer Einzimmer-Wohnung in Berlin-Moabit zweieinhalb Jahre lang eine jüdische Familie versteckt. Die allein stehende Frau kennt den Vater der Familie, weil er gelegentlich im Café seiner Mutter Klavier spielt.
Als die Familie eines Tages Anweisung erhält, am folgenden Tag das Haus nicht zu verlassen, weil angeblich vermögensrechtliche Fragen zu klären seien, fürchtet er, dass sie in Wirklichkeit deportiert werden sollen. Helene von Schell bietet dem Ehepaar und den zwei Söhnen Schutz in ihrer Wohnung an, die auf demselben Flur wie die eines NSDAP-Funktionärs liegt. Sie verpflegt die vier Personen drei Winter lang, schläft selber in der Küche, Eltern und Kinder im Wohnzimmer.
Eine dritte Ehrung erhalten heute Rosa und ihr 1989 verstorbener Mann Fritz Hohmann. Rosa Hohmann kommt dafür aus Frankfurt. Die Rettungsgeschichte spielt in Estland, wohin Fritz Hohmann Anfang 1943 für eine deutsche Baufirma versetzt wird. Hier ist er unter anderem Chef von sechs Frankfurterinnen, die die Nazis nach Estland deportiert haben, und die im ausgebombten Hafen von Reval arbeiten mussten. Hohmann und seine Frau Rosa entwickeln einen mit der Zeit immer umfangreicher werdenden Transport von Nachrichten und Lebensmitteln zwischen Frankfurt und Reval, zwischen den Freunden und Familienangehörigen und den Frauen. Immer wieder brachte sich das Ehepaar damit in Gefahr.
Die Namen von Rosa und Fritz Hohmann, Helene von Schell, Nikolai und Andrej Pankovich stehen für Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um das anderer zu retten. Eigentlich sollte Deutschland sie ehren, Israel tut es. Aber auch das wird bald ein Ende finden, denn schon bald wird niemand mehr leben, der bezeugen kann, sein Leben einem „Gerechten unter den Völkern“ zu verdanken.
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