: „Die Entfaltung der Fantasie“
Ulrike Poppe gründete mit anderen Eltern 1979 den ersten Kinderladen in der DDR, ohne Absegnung von oben in einer leer stehenden Ladenwohnung. 1983 wurde der Laden geschlossen. Bis zur Wende blieb er der einzige seiner Art
„Das Jahr 1979, als mein Sohn Jonas geboren wurde, war ein geburtenstarker Jahrgang. Die Kinderkrippen waren überfüllt, es gab zu wenig Personal. Mein Eindruck von den ,Kinderaufbewahrungsanstalten‘ in Berlin war ziemlich schlecht. Die Babys wurden kaum individuell betreut, nur noch nach streng normierten Tagesplänen abgefertigt.
Zusammen mit anderen Eltern, die ihre Kinder auch nicht in die Krippe geben wollten, kamen wir auf die Idee, einen Kinderladen zu gründen. Die Anregung, wie auch die Bezeichnung, kam aus dem Westen. Die Räumlichkeiten dafür bekamen wir von Freunden, die uns ihre Ladenwohnung in der Husemannstraße (Prenzlauer Berg) zur Verfügung stellten, da sie selbst aufs Land zogen. Das ging natürlich nur inoffiziell, und wir zahlten weiter auf deren Namen die Miete ein.
Am Anfang waren wir fünf Familien. Wir renovierten und möblierten die Wohnung, schafften Spielzeug und Hausrat an und gingen schließlich auf die Suche nach einer geeigneten Kinderfrau. Wir fanden eine gelernte Kinderkrankenschwester und eine weitere Halbtagskraft, die dann insgesamt acht Kinder betreuten. Außerdem half immer noch eine Mutter oder ein Vater mit. Die Eltern übernahmen anfangs auch das Kochen und die Reinigung. Die Kinderfrauen konnten sich also uneingeschränkt den Kindern widmen.
Es war uns wichtig, dass die Gruppe altersmäßig gemischt war und dass die Eltern die Betreuung und Beschäftigung mit gestalten konnten. Einmal in der Woche setzen wir uns zusammen und berieten das Betreuungskonzept und organisatorische Dinge. Inhaltlich war uns wichtig, den Kindern viele Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Phantasie zu bieten und sie zur eigenen Urteilsbildung und zu gewaltlosem, fairem Sozialverhalten anzuregen.
Ich zahlte über 200 Mark für Jonas und meine 1971 geborene Tochter Johanna. Das waren zwei Drittel meines Gehalts, aber die waren es wert. Nach einem halben Jahr bekamen wir die Möglichkeit, Mittagessen von einem nahe gelegenen Kindergarten zu holen, was den Eltern das mühsame abendliche Vorkochen und Hintransportieren ersparte.
Im Frühjahr 1983 bekamen wir vom Rat des Stadtbezirks die Aufforderung, den Kinderladen zu räumen. Die Wohnung würde für eine kinderreiche Familie benötigt. Wir führten ein Gespräch mit dem Bezirksbürgermeister, der uns den wirklichen Grund nannte: Die DDR böte ein weltweit als vorbildhaft geltendes staatliches Kinderbetreuungssystem, und dieses ließe sie sich nicht in Frage stellen durch solch eine an westlichem Vorbild orientierte private Einrichtung.
Im Dezember 1983 wurde der Kinderladen geschlossen. Morgens um 6 Uhr kam ein Lkw mit Männern in Zivil, die schlugen die Scheibe ein, räumten das gesamte Mobiliar und Spielzeug heraus, warfen es auf ihren Anhänger und mauerten das Schaufenster zu. Angeblich gab einen gerichtlichen Beschluss wegen zweckentfremdeter Nutzung von Wohnraum, aber niemand von uns bekam solch ein Papier jemals zu Gesicht. Die Wohnung stand dann bis zur Wende leer. Unser Kinderladen war der einzige in der DDR, bis 1989. Es ist erstaunlich, dass er überhaupt fast drei Jahre hat existieren können.“ aufgezeichnet von JULIA NAUMANN
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