: Dreivierteltakt im Dunkeln
Wien, das waren das Sacher, Paul Hörbiger und das Burgtheater, das waren die netten Chefportiers und die Staatsoper. Wien blieb Wien – auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann kam Jörg Haider, und jetzt ist Schluss mit der Nostalgie. Ein Abgesang
von MARCEL OPHULS
Wien, 1926. Meine Eltern treffen sich zum ersten Mal bei einer Probe im Burgtheater. Gleich bei dieser ersten Begegnung gibt es Krach zwischen dem jungen Regisseur Max Ophüls, 24, frisch aus dem Ruhrgebiet engagiert, und Hilde Wall, einer Darstellerin aus dem Ensemble. Es ging, so wurde es mir von den beiden später erzählt, um ein hellgrünes Kostüm aus schwerem Samt. Im Dunkel des leeren Saals, am Regiepult, blieb der unbekannte junge Mann ganz ruhig und höflich, aber er gab nicht nach. Das imponierte der Schauspielerin. So entstand auch gleich das erste große Missverständnis, denn in späteren Jahren musste meine arme Mutter, nicht mehr auf der Bühne, sondern in stets gemütlichen, von ihr eingerichteten Wohnungen, in vielen Ländern und auf zwei Kontinenten hunderte von Tobsuchtsanfällen erleben. Die Heirat fand allerdings statt, bevor sie sein Temperament kennen lernte – ein junger Wiener Lokalreporter namens B. Wilder berichtete sogar darüber im Abendblatt. Bürgerlich fristgemäß erblickte ich das Licht der schönen, heilen Welt neun bis zehn Monate später.
Aber das war schon längst nicht mehr an der schönen blauen Donau, sondern am Dornbusch in Frankfurt am Main. Ein Zufall war dieser plötzliche Umzug der Jungverheirateten aber keineswegs: Gleich gegen Ende der ersten Saison hatte nämlich der damalige Intendant des Burgtheaters, ein gewisser Franz Herterich, den jungen „Piefke“ in sein Büro gebeten. Dort vertraute er ihm unter vier Augen „mit größtem Bedauern“ an, dass er selbst, „ also bitte schön, Hand aufs Herz, das müssen Sie mir schon glauben“, gemeinsam mit meinem Vater, die schwere Schuld an einem groben politischen Fehler trage: „Tja, es ist von uns sehr undiplomatisch gewesen, junger Freund, Sie in eigener Regie auch noch als jugendlichen Liebhaber auftreten zu lassen. Das Publikum hat nurmehr die Wahrnehmung gemacht, lieber Her Ophüls, dass Sie Jude sind. Sie müssen bedenken, dass wir in einer christlich-sozialen Republik leben und uns danach richten müssen.“ (Zitiert nach Helmut Aspers Biografie „Max Ophüls“, Dieter Berz Verlag, Berlin, 1988).
Seltsam erscheint mir heute noch, dass mein Vater in der Emigration zwar oft über Wien und das „verkalkte“ Burgtheater schimpfte, wie es auch sein bester Freund Fritz Kortner tat, aber ohne jemals seine Erfahrungen mit dem rabiaten k. u. k. Antisemitismus zu erwähnen. Ich glaube fast, er schämte sich mir gegenüber ein bisschen, dass er einen Anwalt zur Hilfe rufen musste, um Schadenersatz zu bekommen, und dass dadurch ein solcher Skandal in die Wiener Zeitungen kam. Max Ophüls war zwar oft und gern streitsüchtig, aber in der Rolle des Opfers fühlte er sich nie besonders wohl. Auch später nicht.
Wien heute: Ich muss gestehen, dass es für mich alles andere als eine Überraschung war, als Jörg Haiders Partei an die Macht kam. Die Erfahrungen, die ich bei der Arbeit an meinen zeitgeschichtlichen Dokumentationen machen musste, haben mich in dieser Hinsicht pessimistisch gemacht. Dennoch: Im Gegensatz zu meinen Eltern fühlte ich mich nach dem Krieg in Wien immer sehr wohl, es ist doch weiß Gott eine herrliche Stadt. Trotzdem konnte ich dort nie ganz den letzten Satz aus einem Kapitel in Kortners wunderschöner Autobiografie „Aller Tage Abend“ vergessen. Er schrieb über Wien, als er seine Geburtsstadt kurz nach dem Krieg zum ersten Mal wieder besuchte.
Tief in der Nacht lag er allein im Hotel Sacher, konnte nicht schlafen und fühlte sich plötzlich sehr einsam. „Es wurde mir auf einmal wieder bewusst, dass von meiner zahlreichen Familie, die ich früher bei Wiener Gastspielen möglichst nicht zu sehen versuchte, kein einziges Mitglied mehr übrig war. Ich schaltete die Nachttischlampe aus und blieb allein im Dunkeln. Na gute Nacht!“
Österreichische Erinnerungen: Wie gerne wohnte auch ich noch bis vor ein paar Jahren (auf Kosten der Wiener Festspiele) im Hotel Sacher oder im Bristol. Wie schön fand ich es, bei Filmarbeiten im Salzburger Goldenen Hirschen oder leistete mir auf eigene Kosten ein paar viel zu teure Tage in Schloss Fuschl, da wo Ribbentrop einst seine Sommerresidenz gebaut hatte. Irgendwie war es immer besonders angenehm, gerade im Dreivierteltakt über die Verhältnisse zu leben. Bei Herrn Wanninger, dem Chefportier im Sacher, konnte man immer, auch am Abend nach der Anreise, Karten für die gegenüberliegende Staatsoper bekommen.
Ich bitte, meine Herrschaften / Nur recht gemütlich! / Mit der Ruhe kommt man / Noch einmal so weit . . .“ (Der Oberkellner Leopold im „Weißen Röss’l“)
Wien und die Welt: Mit der Nostalgie ist es endgültig vorbei. Neuere Umfragen aus Österreich haben ergeben, dass ca. 20 Prozent der Österreicher einem Juden heute nicht gerne die Hand geben würde. Und jetzt, wo auch noch die diplomatischen Boykottmaßnahmen in Brüssel aufgehoben wurden, wird das vermutlich in Wien, Graz und Klagenfurt gefeiert, als hätte Österreich gleich in den ersten Tagen ein Dutzend Goldmedaillen gewonnen. Fehlt irgendwie nur noch, dass Ernst Nolte als Sieger des Historikerstreits auch noch den Nobelpreis in Stockholm einstreicht. What next?
Ausgerechnet Jacques Chirac musste im Namen der Europäischen Union die Amnestie für Österreich aussprechen. Schon als er ins Élysée gewählt wurde, behauptete Jean-Marie Le Pen, er sei der französische Volksfeind Nummer eins und habe sich „an die Juden verkauft“. Bei Haider hatte sich Chirac gleich zu Beginn seiner Amtszeit unbeliebt gemacht, als er eine Rede über das Vichy-Regime hielt, in der er die Beteiligung der Pétain-Regierung an der Vernichtung der Juden und Zigeuner anklagte sowie den Einsatz der französischen Polizei bei der schrecklichen „Rafle du Vel’ d’Hiv“. Als es dann später um die klare Anti-Haider-Haltung der französischen Regierung ging, fragte plötzlich der Figaro, wie es eine Regierung, die kommunistische Minister hat, überhaupt wagen könne, das österreichische Bündnis anzugreifen. Auch in einem Leitartikel der deutschen Tageszeitung Die Welt fühlte man sich von den Franzosen bevormundet. Und in der Herald Tribune schrieb Joseph Fitchett, la Grande Nation solle doch endlich aufhören, „to teach others how to be democratic“. Selbst den neueren, jüngeren Redakteuren meiner amerikanischen Morgenzeitung scheint also zu entgehen, dass es hier ja keineswegs um Demokatie geht, – denn niemand kann bezweifeln, dass Haider demokratisch an die Macht kam –, sondern doch wohl um Ausländerhass und Antisemitismus.
Damals: Ende der Siebzigerjahre drehte ich einen Film über die Nürnberger Prozesse, „The Memory of Justice“ (deutsch: „Nicht schuldig“). Darin erschien ein ehemaliger nichtjüdischer Häftling aus Buchenwald, der mich mit seinem Wiener Charme immer an Paul Hörbiger erinnerte: Eugen Kogon, auch Autor des Buches „Der SS-Staat“, des ersten Zeugenberichts nach dem Krieg. Gestern Abend also sah ich mir mit meiner Frau noch einmal folgende Szenen aus „The Memory of Justice“ an:
(FKK-Sauna in Hamburg, nachts. Zwei hübsche nackte Mädchen steigen aus dem Schwimmbad, bei Mondschein. Musik: Willi Forst singt „Du bist schön bei den Frauen, Bel Ami)
SS-Mann (bei sich zu Hause): „Wenn wir zum Beispiel auf die Beziehung der Geschlechter zueinander in der damaligen Zeit zurückblicken, so kann ich aus meiner eigenen Erfahrung als ehemaliger Führer der Hitler-Jugend bezeugen, dass wir, ohne dass wir jemals irgendetwas ausgeklammert hätten, doch ein viel anständigeres Leben geführt haben.“
Baldur von Schirach (nachts auf einem Balkon, zu Fackelträgern, jubelnd – Archiv):
„Unser Führer, unser geliebter Führer, Adolf Hitler, Sieg Heil!“
(Marschmusik: „Morgen die ganze Welt“)
SS-Mann (in seiner Wohnung): „Der Unterschied ist ganz einfach, dass wir nicht mit derlei Schmutz und Dreck konfrontiert wurden. Dadurch entwickelten wir auch nicht die obszönen Angewohnheiten, die heutzutage gang und gäbe sind.“
(Marschmusik: der Fackelzug der jungen blonden Männer)
(Büro von Dr. Eugen Kogon) Frage von Marcel Ophuls: „Herr Doktor Kogon, was meinten Sie vorhin mit der älteren Generation?“
Kogon: „Die ältere Generation, meinen Sie?
M. O: „Ja.“
Kogon (etwas wehmütig und ironisch lächelnd):
„Sehr tüchtig! Aber wenn Sie etwa glauben, dass irgendeine pädagogische Erneuerung von ihnen zu erwarten ist (schüttelt den Kopf), so muss ich sagen . . . Nein! Es ist zum Teil Hilflosigkeit. (Pause) Aber der Hauptgrund, meine ich, ist die nicht unerwartete Art und Weise, in der sie mit der Vergangenheit umgegangen sind: Sie liegt imKeller! Man gräbt sie nicht aus. Man gräbt sie nicht um! Man lässt sie, wo sie ist. Es ist eher unhöflich, in guter Gesellschaft darüber zu sprechen. Wenn man es dennoch tut, wird es hingenommen. So jemandem wie ich, dem hört man höflich zu . . . (das Lächeln wird immer breiter und trauriger) . . . Aber ich erzähle ja auch nichts mehr. (Pause, Großaufnahme) Ich sehe keine große Chance, die alte oder gar die mittlere Generation noch heute zu beeinflussen.“
M.O.: „Und die Jungen?“
Kogon (zögernd): „Tja! Das ist natürlich die große Frage . . . (Pause) Wir wissen sehr wenig von ihnen (lacht).“
Das Wiener Original: In Hollywood kursierte während des Krieges eine Zeitlang das Gerücht, die Gestapo hätten Paul Hörbiger wegen Hochverrats verhaftet und erschossen (wie sich später herausstellte, stimmte nur der erste Teil). Mein Vater setzte sich nachts spät an den Schreibtisch und verfasste folgenden Nachruf auf den Schauspieler, der in seinem Film „Liebelei“ den alten Weiring gespielt hatte:
Du nahmst die Maske vom Gesicht zu früh / Noch eh der Vorhang fiel: / Nun brennen die Lampen wie Totenlicht / Über Deinem großen Spiel. / Wir können Dich erst wiedersehen / Am Himmelsschauspielhaus / Auf Deinem Grab soll geschrieben stehen: Sein Herz hielt es nicht aus.
Jörg Haider? Ach Gott, da haben wir schon so viel Anderes miterlebt. Irgendwann hat man die Nase voll. Vor den Volksumfragen habe ich Angst, nicht vor irgendwelchen bösen Buben.
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