Mein wunderbarer Weltuntergang

Die Ausstellung „Apocalypse“ in der Londoner Royal Academy bemüht sich um einen verfeinerten Ausdruck der Schrecken, die in der Gesellschaft schlummern. In der Nachfolge der erhabenen Schauer setzt ihr Macher Norman Rosenthal auf die Reizmittel eines Kunst gewordenen Gruselkabinetts

Nach Auschwitz kann man unendlich viele Bilder produzieren – alles ist Barbarei

von HARALD FRICKE

Aus und vorbei. Nichts geht mehr. Die Computerkasse streikt bei der dritten Packung. „Nein“, sagt der Verkäufer, „es gibt nur zwei Schachteln Paracetamol, wir dürfen nicht mehr als die vorgeschriebene Menge ausgeben. Das ist Gesetz!“ Die vielleicht vierzigjährige Frau vor dem Counter schaut ihn schläfrig an und murmelt: „Aber die sind doch im Angebot.“ Schmerzmittel zum Sonderpreis, bei Tesco an der Oxford Street in London, um halb zwölf Uhr abends. Dann schlurft sie wie in Trance zurück auf die Straße. Immerhin, zwei Packungen, das muss reichen für die Nacht.

Die Frau, mit ihrer grauen Wolldecke um die Schultern, könnte gut in ein Video von Gillian Wearing passen. Zu all den anderen Gestrandeten, die die Turner-Preis-Trägerin von 1997 auf Fotos und in Interviews dokumentiert. Mehrere ihrer Videos aus dem Leben von Alkoholikern laufen momentan in der Serpentine Gallery mitten im Hyde Park. Es ist wie in einem Mike-Leigh-Film: Der neue Realismus in der britischen Kunst seit den Neunzigerjahren geht viel auf die Straße und versucht herauszufinden, wie sich das Scheitern im Alltag wohl anfühlt. Schließlich könnte jeder irgendwann dazugehören – die Wände aus Ruhm und Gold sind dünn, die die New Economy mit ihren Sammlern und Museumsdirektoren um KünstlerInnen wie Tracey Emin, Damien Hirst oder Douglas Gordon gezogen hat.

Die Bilder von Elend und Suff made in England kommen von Herzen, sind aber weder schön noch apokalyptisch. Deshalb wirkt es etwas merkwürdig, wenn in der Royal Academy of Arts die Ausstellung „Apocalypse“ als „beauty and horror in contemporary art“ dargeboten wird. Die Wirklichkeit, möchte man meinen, ist schon schlimm genug, was nutzen da die Offenbarungen des Johannes? Aber der Wille zum Weltuntergang im Titel soll gar nichts verkünden, er soll vor allem besser vermarkten. Daran hat man sich in England seit „Sensation“ gewöhnt, als ein an die Wand der Royal Academy gezeichnetes Porträt der Kindermörderin Myra Hindley das auslöste, was der Slogan vorgab. Gleichzeitig kann man die Briten für ihre poppige Labelpolitik im Kunstbetrieb nur beglückwünschen. Wer würde sich noch eine Ausstellung wie „The Great Age of British Watercolours, 1750–1880“ anschauen, wo man doch heute all die funky young british artists hat?

Ein bisschen Aufruhr gibt es auch jetzt wegen „Apocalypse“, für die der Kurator Norman Rosenthal gemeinsam mit Max Wigram 13 Arbeiten ausgesucht hat: sechs Briten gegen sieben Künstler aus dem Rest der Welt. Die Katholiken protestieren, weil der Italiener Maurizio Cattelan eine Wachsfigur von Papst Johannes Paul II. hat modellieren lassen, der gerade von einem Kometen niedergerissen wird. Außerdem ist der Videoraum, in dem Chris Cunninghams „Flex“ läuft, erst ab 18 Jahren zugänglich, weil es dort für den Bruchteil einer Sekunde Sex zu sehen gibt, bevor sich das Pärchen prügelt, bis Blut kommt. Und über die Arbeit der Brüder Dinos & Jake Chapman wird in den Medien praktisch seit einem halben Jahr unentwegt berichtet: Ihre Installation „Hell“ zeigt Vitrinen aus dem Naturkundemuseum mit Konzentrationslagern im Fallerformat. SS-Soldaten werden von glatzköpfigen Mutanten zerstückelt, Frauen kopulieren mit Leichen, in der Mitte türmt sich ein Splatterberg mit Atompilz auf. Das finden die Briten natürlich shocking, während außenstehende Touristen die abwurfbereiten Kampfbomber auf den Souvenir-Unterhosen im Imperial War Museum mindestens ebenso befremdlich finden dürften.

Tatsächlich geht es dem Ausstellungsmacher Norman Rosenthal mit „Apocalypse“ um einen Konflikt, der mit Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg eng zusammenhängt. Das Grauen von einst schlummert weiter in der Gesellschaft – und es ist die Kunst, die diese im Unbewussten abgespeicherten Bilder wieder hervorrufen kann. Ähnlich hatte Christos Joachimides 1997 für die Berliner Ausstellung „Epoche der Moderne“ argumentiert, als er den Terror des Faschismus als „unfreiwilligen Helfer“ und Stichwortgeber in der zeitgenössischen Kunst nannte.

Im verfeinerten Ausdruck solcher Schrecken kann die Kunst, so Rosenthal, ihrem Ende zuvorkommen, denn „Fortschritt gibt es nicht mehr“. Weil die Zauberformeln der Moderne keine neue Avantgarde hervorbringen, weil sie in der Postmoderne ironisch in ihre einzelnen Bestandteile, in Zeichen und Rhetorik zerlegt wurden, setzt Rosenthal nun auf den Horror, der sich in seinem Kunst gewordenen Schreckenskabinett ausbreiten soll. Auch das ist ein Trick, ein Spiel mit Reizmitteln: Sollte nicht das Erhabene dem Betrachter schon in vormodernen Zeiten als wohliger Schauer durch die Sinne fahren? Deshalb denkt Rosenthal einigermaßen genüsslich an den „Triumph des Todes“ von Pieter Breughel d. Ä., wenn er auf das Splatter-KZ der Chapman-Brüder schaut – und kann doch die Bestialität der Darstellung mit der Brutalität des Holocaust begründen. Dass die Arbeit allerdings nicht die Vernichtung der Juden, sondern das Massaker an ihren Vernichtern zeigt, beugt wiederum der Kritik an einer möglichen Repräsentation des Holocaust vor: Nach Auschwitz kann man unendlich viele Bilder herstellen – alles ist Barbarei.

Oder Schweigen. Denn die zweite Arbeit, die sich in „Apocalypse“ mit der totalen Auslöschung beschäftigt, steht als Readymade der Geschichte stumm in einem weißen Raum. Darren Almond hat einen Nachbau der beiden Bushaltestellen aufgestellt, die zur Gedenkstätte im heutigen Oswiecim führen. Man kann sich hineinsetzen und warten: Darauf, dass Zeit vergeht, so der nüchterne Kommentar des 29-jährigen britischen Künstlers. Zur Presseeröffnung sitzt dort allerdings nur Rosenthal und erklärt einem deutschen Kollegen vom Radio, wie notwendig ein Holocaust-Museum in Berlin wäre, das die Fakten hinter den Greultaten der Nazis en Detail dokumentiert – damit nachfolgende Generationen, zu denen auch Almond gehört, die Geschichte nicht vergessen.

Dagegen setzt die Ausstellung zur Apokalypse auf eingängige Polarisierungen: Das Böse wird in Bildern zur Vergangenheit gebannt, die Gegenwart aus Kosovo-Krieg, Ökokastrophen oder weltweiter Armut muss draußen bleiben. Auch die Schönheit als ergänzendes Passstück des Schreckens kommt nur in Bezug auf frühere Zeiten zur Geltung. Dann erkennt Rosenthal in den Fotos von Wolfgang Tillmans die Stillleben von Chardin aus dem 18. Jahrhundert wieder; und der cool gestylte Glastempel von Mariko Mori erinnert ihn an Kandinskys „Geisterreich“.

Komplexere Vorstellungen vom Grauen, die nicht in dieses eindeutige Schema aus Verweisen und Metaphern passen, haben es in Rosenthals Auswahl entsprechend schwer. So wird Mike Kelleys neue Installation, die Video und Schauspiel verknüpft, dem Betrachter ohne den dazugehörigen Kontext präsentiert. Dabei ist die Angelegenheit extrem vertrackt: Kelley hat ein Theaterstück aus seiner High-School-Zeit nach einem Foto und einer Schülerzeitungskritik als Videofilm rekonstruiert. Es geht um Homosexualität und Verzweiflung: Ein junger Mann, der als Künstler gescheitert ist, hat die Wunsch- (oder Wahn?)vorstellung, dass er Selbstmord begehen muss wie vor ihm Sylvia Plath. Eine halbe Stunde lang gleitet das Gespräch zwischen ihm und seinem Liebhaber zwischen Mutterliebe, Frauenhass und allerlei genderspezifischen, psychoanalytischen Issues hin und her. Jede Andeutung wird gleich mehrfach gebrochen, zurückgenommen oder als Spiel im Spiel ironisiert.

Der Text ist vollgepackt mit Theorie und doch so liebevoll zusammengestammelt, wie es eben nur Menschen im Teeniealter zustande bringen. Pathetisch, aber gefühlsecht. Da der Schock bei Kelley jedoch nicht unmittelbar zu erkennen ist, warten die Besucher darauf, das endlich etwas passiert und, verlassen dann ratlos, wenn nicht enttäuscht die grau angestrichene Bühnendekoration. Dabei ist Kelley einer der wenigen Künstler, bei dem der Albtraum nicht bunt daherkommt oder nach Nazitrash und Monstershow aussieht, sondern einfach nur grau. Zu grau vielleicht für das new empire, das zwar nicht den Fußball, aber zumindest den Kapitalismus wieder nach Hause geholt hat. Mal sehen, wie lange der Spuk anhält.

„Apocalypse“, bis 15. 12., Royal Academy of the Arts, London. Katalog: 20 £