: Das Rauschen der Neurone
Begegnung mit einem Psychiater
von GABRIELE GOETTLE
Gerald Ulrich, apl. Prof. Dr. med. a. d. Abt. f. Klin. Psychiatrie u. Polikl. d. FU Bln., Arzt f. Neurol. u. Psychiatrie. Dr. med. 1970, Weiterbild. z. Nervenarzt Univ. Erlangen, ab 1974 Forschungstät. (Abt. f. Klin. Psychophysiol.) a. d. „Klin. f. Psychiatr. u. Neurol.“ d. FU Bln., Habil. 1981 (Videoanal. Studie z. nonverb. Verhalten depress. Pat.), Schwerpunkte: Klin. Neuropsychol., Klin. Elektroenzeph., Polikl. Patientenversorgung (Berl. Lithium-Katamnese), Epistemol. Grundl. v. Mediz./Psychiatr.; Veröff. u. a.: Psychiatr. Elektroenzeph., G. Fischer, Jena 1994, Biomedizin – Von den folgenschweren Wandlungen d. Biologiebegriffs, Schattauer, Stuttg./New York 1997, Im Spannungsfeld v. Aletheia u. Asklepios, nexus, Düsseldorf, sowie div. Publikationen in in- u. ausl. Fachzeitschr., Gründer d. Arbeitsgemeinsch. f. psychiatr. Elektroenzeph. Gerald Ulrich wurde 1943 in Eger (tschech. Cheb, NW-Böhmen) geboren, 3 erwachs. Kinder.
Herr Professor Ulrich fiel mir sozusagen in die Hände, und zwar in Form eines kleinen Büchleins mit dem Titel: „Im Spannungsfeld von Aletheia und Asklepios“. Es enthält den Briefwechsel zwischen dem Physiker H. J. Treder (siehe taz v. 26. 6. 00, S.13 f.) und dem Psychiater G. Ulrich und versteht sich als Versuch einer Annäherung zwischen Physik und Medizin. Die beiden in Bezug auf Fachgebiet, Alter und Persönlichkeit sehr verschiedenen Briefpartner umspielen und definieren variantenreich den Wissenschaftsbegriff, und zwar mittels Zuhilfenahme einer Art gemeinsamer „Fremdsprache“, der Philosphie. Die beiden Schreibenden verbindet so etwas wie ein Phantomschmerz, sie möchten die Naturwissenschaft mit der ihr amputierten Philosophie als Moment der Geschichtlichkeit und als Einrichtung menschlicher Vernunft und wissenschaftlicher Erkenntnis wieder vereinen. Über die Einzelheiten wird noch diskutiert.
Herr Ulrich wohnt im Nordwesten Berlins, inmitten einer Eigenheimsiedlung, die umgeben ist von Schrebergärten, Friedhöfen, dem Tegeler Fließ und der Stadtautobahn. Sein Haus liegt in einer Sackgasse und ist der einzige Bungalow zwischen all den spitzgiebeligen, überaus gepflegten Einfamilienhäusern. Die Fassade ist unter einer grünen Kletterpflanze verschwunden, im Vorgarten stehen tadellos die diversen und üblichen Gewächse. Aus der Rolle bürgerlicher Vorgartenvegetation fällt lediglich der Stechapfelstrauch, der hierzulande eher zum Unkraut gezählt wird als zu den Ziersträuchern. Seine Samen und Blätter enthalten ein narkotisch wirkendes Gift, das, so lese ich grade im alten Meyer, früher zur Behandlung von Geisteskrankheiten und Asthma benutzt wurde: „. . . hier oft in der Form von Stramoniumzigarren“.
Der Hausherr empfängt Elisabeth und mich am Gartentor, vor dem sein sündteurer, schwarzer Mercedes parkt, sagt salopp „Bonzenschleuder“, bittet uns ins Haus und führt uns durch ein großes Wohnzimmer in den rückwärtig gelegenen Wintergarten. Das Wohnzimmer hat ein Panoramafenster zur Straße hin, das beherrscht wird von einer geordnet ausgewucherten und in sich verschlungenen Blattpflanze. Möbel gibt es nur wenige. Zentral im Raum steht ein feuerroter Ledersessel, vis-à-vis vom Fernsehgerät. Auffallend sind die vielen, teils expressiven Bilder an den Wänden. Sie hängen ringsum in Reih und Glied. Auffallend ist auch ein irritierender, teils würziger, teils muffiger Geruch, von dem das ganze Haus erfüllt zu sein scheint. Wir bekommen vom Hausherrn Tee eingeschenkt und blicken in das wohl geordnete kleine Gärtchen, das umgeben ist von den Nachbargärten, und auf einen Korb frisch gepflückter Äpfel. Herr Professor Ulrich nimmt Platz und lächelt. Hinter ihm an der Wand hängt ein Bild, es zeigt einen grimassierenden Winterwald mit Panjewagen und Wölfen, gemalt wie von einem Jungen Wilden.
„Ich kam 1974 nach Berlin, zu meinem damaligen Lehrer, Professor Bente, den ich ja von Erlangen her schon kannte“, sagt der Hausherr mit bayrisch klingendem rollendem R, „Bente war ein Schüler von Kretschmer, und er war sehr breit angelegt. Das ging von der Mathematik über die Medizin zur Philosphie und zur Kunstgeschichte, er war eine schillernde Persönlichkeit, er hat mich inspiriert. Hat alle inspiriert, ohne selbst etwas zu Ende zu bringen – er war ein großer Anreger, hat auch viel geirrt, aber bei diesen Irrtümern ergaben sich immer neue Fragestellungen, was ja besser ist als sterile Wahrheiten. Bente wurde also hierher berufen, und ich bin ihm gefolgt. Mein damaliger Chef, Professor Wieck, versuchte, mich zu halten, denn was ich da aufgebaut hatte, organmedizinisch, das hatte Anerkennung gefunden. Er sagte, wenn sie hier bleiben, können sie in diesem Jahr noch habilitieren. Das war 1974, da war ich 29 . . . nein, äh, 43 geboren, da war ich . . . na gut, noch keine 30 – aber ich habe dann darauf verzichtet und erst 1981 habilitiert. Habe also viele Jahre Karriere geopfert, diesem Interesse folgend. Aber ich bin natürlich nicht auf der Wolke des Psychischen da nach Berlin geflogen, ich habe handfeste Medizin gemacht vorher, mit Intubation und kleiner Chirurgie, mit Katheterlegen – ich war sogar mal Landarzt für ein Jahr, mit Geburtshilfe und allem, da kamen die Bauern auch mit angemähten Rehkitzen und aufgeblähten Kühen. Das möchte ich alles nicht missen. Aber ich war später immer wieder konfrontiert mit Ratlosigkeit, dass ich meine Zeit verplempere, dass ich meine Erfahrungen mache statt Karriere.
Ich habe sehr gerne handfest gearbeitet, auch in der neurologischen Intensivmedizin. Das war ja damals eine Pioniergeschichte, das gab’s nur noch in Köln, Psychiatrische Intensivmedizin hieß das, und ich als Junger sollte das mit aufbauen. Die Patienten waren Apalliker, von denen Sie sicher schon gehört haben, mit schweren Schädel-Hirn-Traumen, die sind damals alle nach spätestens sechs Monaten gestorben, an Auszehrung. Erst konnte man sich das nicht erklären, dann fand man heraus, dass die Hirnschädigung den Stoffwechsel so anregt, dass sie eine Überschussverbrennung haben und so tatsächlich 6.000 bis 7.000 Kalorien täglich verbrennen. Über die Sondennahrung bekommt man aber maximal 3.000 Kalorien rein, also sind sie alle gestorben. Spätprobleme mit Apallikern oder die Frage des ,Abstellens‘ gab es somit damals noch nicht. Sie magerten ab, bekamen Dekubitusgeschwüre, haben entsetzlich gestunken und hatten Kontraktionen. Ähh!! Es war furchtbar! Die Problemlösung fand ich durch einen Zufall.“
Herr Ulrich, der seine Erzählung mit wechselnder Körperhaltung und unterstreichenden Gesten begleitet, beugt sich vor: „Und zwar hatte ich damals bei einer Firma in Erlangen eine Elektrolytlösung zu kaufen, und dort traf ich zufällig einen experimentellen Chirurgen aus Philadelphia. Der hat Experimente gemacht mit Beagle-Hunden, ihnen den Dünndarm entfernt und ihnen, in der Zeit, bis er nachgewachsen ist – er wächst nämlich nach, auch beim Menschen –, hochprozentige Glukose infundiert, und zwar in die obere Hohlvene, die sehr geräumig ist. Das ist auch notwendig, denn wenn man hochprozentige Glukose infundiert, ist die Gefäßwandreizung extrem stark, also muss da so viel Blut vorhanden sein, dass alles schnell wegtransportiert wird. Also 50-prozentige Glukose. Dabei muss man wissen, bei 51 Prozent ist es bereits Honig, bei 50 Prozent tropft es noch. Da habe ich gedacht, Mensch! Das kannst du doch mal bei den Apallikern probieren. Und tatsächlich, es war ideal, die Leute haben nicht mehr abgenommen, bekamen keine Dekubitusgeschwüre mehr, die haben überlebt! Nur ein Problem gab es, die Bienen! Wir mussten in der Intensivstation extra Fliegengitter einbauen, denn sie kamen von weitem herbei, weil ja auch die Ausscheidungen . . . der Urin war süß. Ich habe dann in Wiesbaden vorgetragen damals, 1972, da es sich ja eigentlich um eine Erfindung handelte . . . Wir hatten Fälle, die konnten zu Fuß nach Hause gehen, zwar als Hilfsbedürftige, aber die Angehörigen waren froh, es war ein echter Fortschritt. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen . . . drei Jahre später habe ich dann in der Zeitung gelesen, dass man in der Neurologischen Universitätsklinik Hannover einen Handballspieler mit ‚Hyperalimentation‘ behandelt, da dachte ich, na, wo haben die den Begriff her, den hast doch du publiziert in der Medizinischen Klinik 1973, kein Mensch denkt da mehr an einen Ulrich, das ist eben so. Vor allem, weils auch nicht mein Ressort war, Grenzüberschreitung ist ja ein todeswürdiges Verbrechen, selbst wenn es zum Segen der Menschheit wäre.“
Herr Ulrich schenkt Tee nach, im Nachbargarten lacht ein Mann sehr hoch und schallend. Vom Haus heraus kommt der seltsame Geruch und erfüllt den Wintergarten. Unser Gastgeber lehnt sich zurück und fährt fort. „Das war also Erlangen. Und ich bin dann im Jahre 1974 in Berlin eingetreten, in eine selbstständige Abteilung für Psychophysiologie der Freien Universität – im Rahmen der Psychiatrisch-Neurologischen Kliniken angesiedelt, nicht untergeordnet oder so was. Der Begriff Psychophysiologie wurde von Hans Berger geprägt, dem Entdecker der Gehirnstrommessung, der EEG, und damit bin ich bereits beim Thema. So um die Jahrhundertwende hatte man ja begonnen, die Naturwissenschaften nutzbar zu machen für die Medizin, was dann der Medizin einen ungeheuren Boom bescherte, also Entdeckung der Röntgenstrahlen usf. Die Physik hatte plötzlich eine enorme Bedeutung, vorher ja weniger. Und Berger hat eine ältere Entdeckung aufgegriffen und weiterentwickelt, elektrische Potenzialschwankungen auf der Gehirnrinde, und mittels Verstärkung sogar auf der Schädelknochenhaut registriert. 1929 war seine erste Publikation. Man hat’s ihm aber nicht so recht abgenommen, erst 1936 kam die Anerkennung der EEG. Da war ein internationaler Psychologenkongress in Paris, und zwei Engländer befanden, Berger hat Recht, das sind keine Artefakte, das sind rhythmische Potenzialschwankungen, und man fragt sich: Bedeuten die etwas für die Medizin? Für Berger sehr wohl, aber er ging damals noch von einem vorwissenschaftlichen Konzept aus – genau wie Freud –, der psychischen Energie, womit natürlich die Physiker zu keiner Zeit etwas anfangen konnten. Der psychische Energiebegriff ist dann zur Metapher verblasst. Berger nahm ihn ganz wörtlich, meinte, diese Energie messen zu können, und war natürlich total auf dem Holzweg, wie wir heute wissen. Immerhin konnte man sehen, dass bei epileptischen Anfällen dieses EEG verändert war, dramatisch verändert. Aber was nutzt das dem Epileptiker, man sieht das ohne Hirnstrommessung ebenso. Letztlich konnte Berger den Beweis nicht antreten, dass es sehr nützlich wäre. Dann kam der Krieg, und Berger hat sich 1941 erschossen – er hatte eine manisch-depressive Psychose, Probleme mit der Partei, und sein Sohn war gefallen. In den Fünfzigerjahren hat dann die Freiburger Schule unter dem großen Neurologen Jung das EEG wieder herangezogen. Er war der „zweite Vater“ des EEG, grenzte es aber streng auf die Neurologie ein und schrieb: Für die Psychiatrie hat das EEG keine Bedeutung! Er war der Papst, der Papst hatte gesprochen, damit war die Sache erledigt – für viele bis heute.“
Herr Ulrich überprüft fast unmerklich unser Mienenspiel und fährt dann sichtlich erleichtert fort: „Aber für meinen Lehrer, Professor Bente, da war das EEG sehr viel mehr als nur ein Instrument der Neurologie. Er hat versucht, wieder bei Berger anzuknüpfen, nicht bei der psychischen Energie selbstverständlich. Er wusste, es ist was dran an der Angelegenheit, und arbeitete das so genannte Vigilanz-Konzept aus – das von dem englischen Neurologen Head stammt. Es hat nicht, wie der Begriff nahe legt, etwas mit Wachheit zu tun oder dem Gefühl der Ermüdung, sondern mit dem Organisationsniveau. Mit der Vorstellung, dass das intakte Hirn ein höheres Organisationsniveau hat als ein krankes und dass beim Übergang vom Wachen zum Schlafen verschiedene Vigilanzniveaus durchlaufen werden. Berger hat die Beobachtung gemacht, dass, wenn man Leute nur so sitzen lässt, auf dem Ableitungsstuhl, das Hirn sich selbst überlässt, dann stellt man fest, dass sich das EEG nach einiger Zeit verändert. Im Wachzustand!
Zusammenfassend kann man sagen, das war der Kern der Benteschen EEG-Konzeption, die Vorstellung, dass bei Psychosen diese raum-zeitliche Ordnung, diese Zyklusdynamik des spontanen Ruhe-EEGs abgewandelt ist, auch bei Depressionen, Schizophrenien usw. Und um das zu belegen, musste man natürlich entsprechend theoriegeleitete Verfahren entwickeln. Aber dazu kam Bente nicht mehr, der Tod hat ihn ereilt. 1982 . . . äh, es war 1983, ist er gestorben, ganz plötzlich, in seinem Sessel. Eine Zigarette rauchend ist er umgekippt . . . ich war dabei, habe noch versucht, ihn zu reanimieren, habe ihn sogar intubiert, aber es war ein Sekundenherztod oder ein Schlaganfall, ist ja egal. Er war tot. Und nun war ich kommissarischer Leiter dieser Abteilung, für einige Jahre, und habe natürlich versucht, in den Bahnen Bentes und vor allem konsequenter als er weiterzuarbeiten. Die Begrenzung, mit dem EEG weiterzukommen, die lag damals auch in der Technik. Doch einige Zeit später hatte fast jeder einen Computer, und man konnte nun die Hirnströme, diesen Wellensalat – das ist ja ein Gemisch von Frequenzen – nun
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automatisch analysieren, die so genannte Spektralanalyse konnte man automatisch durchführen, immerhin. Man war einen Schritt weiter, über das rein Optische hinaus. Das hatte man ja der Hirnstrommessung immer vorgeworfen, es sei reine Sternguckerei, der eine siehts, der andere nicht, das ist keine seriöse Wissenschaft. Deshalb war diese Alternative verlockend, das EEG quantitativ zu analysieren, mathematisch. Da haben sich viele drauf gestürzt, nur wussten sie nicht, was sie eigentlich aus dem EEG da herausanalysieren sollten: Was bedeuten die verschiedenen Resultate usw.? Und man hat immer mehr das EEG delegiert an Methodiker, an Ingenieure. Und diese Deutungsschwäche, die gab es ja vorher schon, das hängt auch damit zusammen, dass die Psychiatrie eine handlungsarme Wissenschaft ist, sie tut vieles, damit etwas zu geschehen scheint. Jahrzehntelang war es – in Berlin speziell – Vorschrift, dass jeder psychiatrische Patient bei stationärem Aufenthalt ein EEG gemacht bekommt. Aber fragen Sie nicht, warum. Und wenn nicht EEG, dann hat man Ventrikeldarstellungen gemacht, röntgenologisch. Es wurde Hirnwasser abgezapft, Luft eingeblasen, so konnte man die Hohlräume darstellen im Röntgenbild. Man sagte „Genickschuss“, es wurde okzipital [am Hinterkopf, G. G.] gemacht. Aber man durfte nicht fragen, warum. Da sind die Psychiater sehr, sehr ärgerlich geworden. Alles, um darüber hinwegzutäuschen, dass also psychiatrisches Diagnostizieren eine subjektive Bewertungsangelegenheit ist, aber keine objektive Messangelegenheit.
Die Psychiatrie hat im Laufe der Zeit immer mehr an Ansehen verloren im Kanon der übrigen medizinischen Fächer. Und das EEG ist tot. In der Situation sind wir momentan, das ist der Stand.“ Gesichtzüge und Stimmung unseres Gastgebers scheinen zunehmend melancholischer zu werden. Das abendliche Glockengeläut einer nahen Kirche untermalt weitere Klagen, die alsbald aber umschlagen in geradezu feurig vorgetragene Ausführungen zur Rettung der psychiatrischen EEG zum Wohle der gesamten Fachdisziplin. „Jetzt komme ich zum eigentlich Wichtigen – worauf ich die ganze Zeit hinauswollte. Es gibt ein beharrliches, durch keine Fakten zu rechtfertigendes Vorurteil, das behauptet, die EEG zeichne nichts weiter auf als das Arbeitsgeräusch, das Rauschen der Neurone, und von denen haben wir, sagen wir in der Großhirnrinde, so 5 Milliarden. Und jedes Neuron entlädt sich rhythmisch, und das ist eine elektrische Potenzialschwankung für jedes einzelne. Nun solle man denken, dass sich das, wenn 5 Milliarden gleichzeitig arbeiten, gegenseitig auslöschen muss, aber das tut es nicht. Wiener, der Vater der Kybernetik, hat solche rhythmischen Phänomene in der Natur schon in den 50er-Jahren festgestellt, und da gibt es beispielsweise auch den Freund von Prof. Treder, H. Haken, der die Wissenschaft der Synergetik begründet hat. Ein Physiker, er befasst sich mit den kooperativen Fähigkeiten von Elementen, also einer großen Anzahl von Elementen, die unter bestimmten Bedingungen bestimmte Eigenschaften entfalten, und dazu gehören rhythmische Phänomene. Es gibt da den Begriff des Ordnungsparameters, also wenn verschiedene konkurrierende Frequenzen beispielsweise da wären und schließlich eine davon die Vorherrschaft gewinnt, wäre das ein ‚versklavender Ordnungsparameter‘. Das kann einem gefallen oder nicht – das ist Synergetik.
Ich habe nach einem Beispiel gesucht, mit dem man dem Laien erklären kann, dass es sich eben um mehr als nur ein Begleitrauschen der Tätigkeit kortikaler Neurone handelt. Nehmen Sie den Straßenlärm: Sie sitzen in einer Wohnung – sagen wir an einer Straßenkreuzung gelegen – und hören den Lärm, Ergebnis von Tausenden hin- und herfahrenden Autos, Motorrädern, Geschrei von Fußgängern – und nun könnte man sagen: Stochaischer Prozess, alles zufällig. Weißes Rauschen, ohne Bedeutung – und wenn, dann die der Frequenzzusammensetzung. Falsch! Was Sie hören, ist ein sich selbst organisierender sozialer Prozess mit bestimmter Ordnung, einem sinnvollen Zusammenhang. Und ebenso ist es mit dem Rauschen der Neurone: Es ist Massenaktivität, ohne jeden Zweifel, aber aus dieser Massenaktivität kann ich sehr wohl Informationen gewinnen – wichtige Informationen –, und zwar über den Ablauf, die Ordnung, die Störungen. Es interessiert überhaupt nicht, was in den einzelnen Neuronen vorgeht – das wäre der Maschinencode, sagen wir mal –, mich interessiert das synergetische Element, nämlich der Benutzercode. Und deswegen ist für mich das EEG keine Neurophysiologie sondern Verhaltensphysiologie. Bei dieser vieldeutigen Mannigfaltigkeit von Erscheinungen kann man ja nur am Ariadnefaden eines ordnungsstiftenden Konzeptes das Ziel erreichen und nur bei strenger Beachtung des Unterschieds von Theorie- und Beobachtungssprache, für Letztere erarbeitete ja Bente bereits die Grundlagen. Unabdingbar ist auch Erfahrungswissen, deshalb kann das psychiatrische EEG nur innerhalb der Psychiatrie, von Psychiatern mit klinischer Qualifikation, entwickelt werden. Die klinische Psychiatrie muss das EEG als ein ureigenes Forschungsinstrument wieder entdecken!“
Herr Ulrich steht auf und zeigt uns sein umfangreiches Buch zum Thema der psychiatrischen Elektroenzephalographie und sagt, in jenem unveränderten Tonfall, in dem er auch ironische und sarkastische Bemerkungen ausspricht, ohne sie mimisch oder sonstwie hervorzuheben: „Es ist das einzige Buch mit diesem Inhalt, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Um das alles voranzutreiben, habe ich eine Arbeitsgemeinschaft für Psychiatrische Elektroenzephalographie gegründet, durch Rundschreiben, im Bundesgebiet und dem deutschsprachigen Ausland, habe Tagungen in Berlin abgehalten, sehr zum Missfallen meines Vorgesetzten. Das EEG ist tot! Seine Wiederbelebung ist mein Privatvergnügen. Ansonsten, was die Lehre betrifft, da bin ich verpflichtet als Hochschullehrer, mein Angebot zu machen – das mache ich auch, im Vorlesungsverzeichnis –, aber seit es keine Deutsche EEG-Gesellschaft mehr gibt, kommt kein Student mehr . . . nicht einer! Mein Lehrdeputat erfülle ich, aber was ich zu sagen habe, interessiert nicht. Es ist schade, ich habe sehr gerne mit lernbegierigen jungen Leuten zu tun. Vor vielen Jahren war es vollkommen anders, ich habe damals noch Interesse erregt und mit viel Freude zum Beispiel ein Seminar abgehalten zur Theorie autopoietischer Systeme [lebender Systeme, G. G.; der Begriff stammt von dem chilenischen Neurobiologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturata]. Also, das liefe heute mit Sicherheit nicht mehr. Ja und dann arbeite ich eben hauptsächlich klinisch, man hat mir eine begrenzte Anzahl von Patienten zugewiesen, so um die 20. Der Vorteil an der Misere ist, dass ich sehr viel Zeit für sie habe, nie unter Zeitdruck bin. Da macht Psychiatrie nämlich Spaß, wenn man sich wirklich beschäftigen kann mit den Personen. Ich habe abgeschafft, was sonst bei Professoren üblich ist, den Sekretariatsbauchladen, ich bin jederzeit während der Dienstzeit für meine Patienten erreichbar, und zwar direkt! Und ich lerne ja auch von ihnen. Ein Arzt muss neugierig sein, wissen wollen, was im Patienten vorgeht. Ich habe sogar mal Psychopharmaka an mir selbst ausprobiert, was natürlich etwas anders wirkt als beim Kranken, aber man fühlt sich sauunwohl in seiner Haut und ist froh, wenn die Wirkung aufhört.“ Herr Ulrich beobachtet eine Schnake, die auf seinem Arm Platz nimmt, erschlägt sie mit den Worten: „Patsch! – Mücke!“
Unser Gastgeber blickt einen Moment in die Dämmerung hinaus und sagt: „Grade das Soziale ist ja so wichtig, das sind, wie der wundervolle Jakob von Uexküll es ausgedrückt hat in seiner ‚Bedeutungslehre‘, die hunderttausend unsichtbaren Fäden, die uns verbinden. Und was ist normal und was nicht! Beim Krankheitsbegriff muss ich das unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten sehen, als Arzt, und nicht unter rigiden Vorgaben, die am Schluss weniger rigide als vielmehr interessengelenkt sind. Bei der Unterscheidung dessen, was innerhalb der Norm liegt und was außerhalb – sagen wirs mal so – versteckt man sich gern hinter einem Klassifikationsschema. Und das ist absolut zeitgebunden, wie die unentwegten Revisionen zeigen, es gibt offenbar Ärzte, Psychiater usw., deren liebste Beschäftigung darin besteht, alle zwei Jahre am grünen Tisch Krankheiten neu zu klassifizieren, zu ordnen, zu vermehren. Die Vermehrungskurve verläuft steil ansteigend, die Anzahl der Krankheiten – vollkommen neuer Krankheiten – nimmt ständig zu. Und die Patienten, die werden wohl oder übel diese Krankheiten bekommen oder sie an sich diagnostizieren lassen müssen, haben sich danach zu richten. Denn zum Beispiel Kassenärzte müssen ja alle ihre Diagnosen verschlüsselt eingeben in den Computer, sonst sehen sie keinen Pfennig Geld. Das erzwingt eine bestimmte Festlegung und Vorauswahl, und man greift da auf eine sehr gefährliche Weise ein. Und der Grund ist ja nicht der, dass das eine notwendige Ordnung wäre, um den wirtschaftlichen und bürokratischen Aspekt zu vereinfachen, nein, nein! Das hat tiefere Gründe, was, also welche Störung, für die Gesellschaft Krankheitswert hat. Da werden patientenferne Interessen durch die Hintertür eingeführt. Es gibt eben sehr starke Lobbys, die sich für diese oder jene Störung massiv einsetzen, dafür, dass die auch wirklich anerkannt wird in ihrem behaupteten Krankheitswert. Hier bei uns sind in den vergangenen fünf bis zehn Jahren überall so genannte Schlaflabors wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Es gibt eine Schlafmedizin und so was – inzwischen sind sie bereits wieder auf dem absterbenden Ast, aber das ist alles mit volkswirtschaftlicher Notwendigkeit begründet worden. Man hat das hochgerechnet, soundso viel Schlafausfall bedingt durch Kranheit, soundso viel vom Bruttosozialprodukt usw. Uiii, wie billig sind dann letztlich die teuersten Schlaflabors gegenüber dem volkswirtschaftlichen Schaden, den sie angeblich vermindern. Und man hat zugleich Arbeitsplätze geschaffen – und die Geräteindustrie war glücklich. So funktioniert nun mal unsere Makroökonomie. Und es gehört dazu, dass der ‚Normbegriff‘ dabei herangezogen wird, um den Krankheitsbegriff aufzuzwingen. Muss man Alkoholismus als Krankheit bezeichnen? Ich bin da eigentlich sehr im Zweifel – zusammen mit den Anonymen Alkoholikern, die ja wohl wissen werden, worum es geht. Man tut doch einem Alkoholiker – oder der Gruppe der Alkoholiker – gar keinen Gefallen, wenn man das, was sie da haben, an Anomalie, oder Auffälligkeit besser gesagt, als Krankheit bezeichnet. Denn Krankheit hat ja sofort auch die Konnotation: Entschuldigt! – oder verminderte Schuldfähigkeit bei Unfall, Gewalttod oder gar Mord. Und wer einem Straftäter etwas Gutes tun will, der wird ihm zuallererst Blut abnehmen, vielleicht hat er doch ein bisschen Alkohol drin, und schon ist er exkulpiert und bekommt mildernde Umstände. Auch hier läuft der Krankheitsbegriff über die Penunze.“
Wir bekommen zunehmend das Gefühl, dass eigentlich alles gesagt sei, da nimmt das Gespräch plötzlich noch einmal den fast verloren gegangenen Faden auf. Herr Ulrich kommt wieder auf die Psychiatrie zu sprechen und auf sein medizinkritisches Buch „Biomedizin“. Unter diesem Titel ist nicht das zu verstehen, was gängigerweise heute so heißt. Ulrichs Biologiebegriff knüpft bei den Lebenden Systemen an: „Eigenschaften Lebender Systeme, wie beispielsweise Verhalten, Erleben, Bewusstsein, manifestieren sich ja nicht in ihren Bestandteilen, sondern in deren Zusammenwirken“, erklärt er und fügt hinzu: „Aber die autistische Medizin will davon ja nichts wissen! Von Eugen Bleuler, dem wir den Begriff der Schizophrenie verdanken, ist 1919 ein Buch erschienen – eigentlich ist es ja nur ein schmales Bändchen – mit dem Titel ‚Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin‘. Und das war ein Skandalbuch, da wurde ‚Nestbeschmutzung‘ geschrien. Aber das ist in neun Auflagen immer wieder erschienen, dennoch kennen es die allerwenigsten, seltsamerweise. Und ich habe also auch versucht eine kritische Positionsbestimmung in meiner ‚Biomedizin‘ darzustellen. Das war so ein Prozess der Reibung an einem affirmativen Schlaraffenland. Ohne diese Reibung wäre mein Denken verfettet.“ Auf unsere Frage, wie er zur Antipsychiatrie stand, sagt er: „Also nein, nein . . . sie hat sich ja auch als Fehlschlag erwiesen, für die betroffenen Menschen als nachteilig. Das war ja damals, der Zeitströmung entsprechend, geradezu eine Massenpsychose in der Psychiatrie. Aber es ist ja immer so, dass man eine Meinung nicht für sich gesehen bewerten kann, sondern nur vor dem Hintergrund der Situation, in dem Fall der historischen Situation. Und avor dem Hintergrund der damaligen Anstalts- und Verwahrpsychiarie, da war es eben keine Antipsychiatrie, keine Psychiatrie, es war eine Gegenbewegung, deren Konzept nicht aufgegangen ist für die Betroffenen. Der Fortschritt ging weiter. Heute liegt alles in den Genen, es ist das eine so falsch wie das andere . . . Aber wenn man den Extremausschlag des Pendels nicht mitmacht, dann wird man immer gezaust, sitzt zwischen den Stühlen.“
Als wir uns zum Abschied erheben, deutet Herr Ulrich zum Bild an der Wand und sagt: „Väterchen Frost. Erinnerungen an Russland“, führt uns zu den Bildern im Wohnzimmer und erklärt: „Die Bilder, die Sie hier sehen, sind alle von meinem Vater gemalt. Er ist tot. Er war Nervenarzt. Eine sehr zugespitzte Persönlichkeit. Ich hatte das denkbar schlechteste Verhältnis zu ihm . . . Trotzdem hänge ich seine Bilder auf. Meine Tochter versteht das nicht. Aber es muss sie ja außer mir keiner anschaun.“ Dann bittet er kurz in die Küche und schenkt uns ein Glas getrockneter Pilze. Maronen. Selbst gepflückt. „Die gibts momentan in rauen Mengen, ich trockne sie, in Scheiben geschnitten, auf diesen Holzbrettern da im Backofen. Auf kleinster Temperaturstufe, einfach die Nacht über, bei etwas geöffneter Tür.“ Daher also der seltsame Geruch.
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