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Zurück in die Gegenwart

Zehn Jahre deutsche Einheit, und alle ziehen Bilanz. Wer mit einem alten DDR-Reiseführer durch Berlin-Mitte reist, erfährt, was sich wirklich geändert hat – nämlich nichts. Eine Stadtbesichtigung

von PHILIP MEINHOLD

„Berlin ist eine vielbesuchte Stätte des konstruktiven Dialogs für eine Koalition der Vernunft und des Realismus.“

(VEB Tourist Verlag, 1989)

Als wir 17 waren, fuhren wir zum Saufen rüber. Wir schütteten literweise Bier in uns rein, das Glas für 1,02 Mark, zahlbar in lächerlich leichten Münzen. Einmal war Andy so besoffen, dass er auf dem Alex eine DDR-Flagge schwenkte, lauthals singend „Die Fahne hoch“. Bei der Ausreise im Tränenpalast mussten wir ihm seinen Mund zuhalten.

Über zehn Jahre ist das jetzt her, und es kommt einem noch viel länger vor. Im Tränenpalast gibt es Konzerte anstatt Kontrollen. Nach Ostberlin zu fahren ist längst selbstverständlich geworden. Und wenn jemand fragt, was sich verändert hat, dann möchte man sagen: Na, alles! Was nun genau, hat die Gewöhnung verwischt.

Man müsste Ostberlin halt noch mal wie früher sehen. Mit den Augen von damals und dem Blick des Besuchers. Die Brille: ein Reiseführer der Vorwendezeit – unbestechlicher Chronist, Konserve von Fakten. Doch diesen Führer zu finden ist gar nicht so leicht. DDR-Reiseführer gab es im Westen nicht viele. Wozu auch? Einführen hätte man sie eh nicht gedurft.

Es sei denn, man nahm den Baedeker mit. Die einzige Mauer, die darin erwähnt wird, ist „zur Waisenstraße hin ein Stück der ältesten Berliner Stadtmauer“. Und die DDR-Bürger werden gleich in der Einleitung gelobt: „Wer möchte nicht einmal sehen, was diese Menschen unter der Zielstellung, eine sozialistische und kommunistische Gesellschaft aufzubauen, geleistet und geschaffen haben.“ Nanu? Herr Baedeker ein Revolutionär? Nein, das Copyright lag beim Tourist Verlag, VEB. Ein West-Reiseführer mit der Wortwahl des Ostens. So durfte der Baedeker damals mit ins Gepäck.

Packen wir ihn also noch einmal ein, „Baedekers Reiseführer DDR“, zweite Auflage, aus dem Jahr 1986. Als Seismograf der Veränderung. Mit der S-Bahn bis zum Alexanderplatz, und dann fröhlich verglichen.

Das weithin sichtbare Wahrzeichen im neu gestalteten Stadtzentrum ist der 365 m hohe Fernsehturm. Er steht unmittelbar am Alex, dem zentralen Verkehrsknotenpunkt im Herzen der Stadt.“

Alles noch so, wie es der Baedeker schreibt: Der Fernsehturm steht, das Forum-Hotel hat 39 Etagen, der Brunnen der Völkerfreundschaft ist eine spiralförmige Komposition und die Weltzeituhr ein berühmter Treffpunkt. Minimaler Unterschied: Am Warenhaus Centrum steht draußen jetzt „Kaufhof“ dran. Dafür ist drinnen die Schreibwarenabteilung noch immer am gleichen Ort. Das weiß ich, weil Mutter hier immer versucht hat, den gesamten Zwangsumtausch in Blöcken und Stiften anzulegen. Was regelmäßig misslang. Das Geld wurde nicht weniger, und ich musste den Rest des Schuljahres in Hefte schreiben, die aussahen wie geheftetes Klopapier. Aber davon erzählt der Baedeker nichts.

Ebenso wenig wie von der unterirdischen Toilette neben der Weltzeituhr. Die stank bestialisch, und man musste in eine Rinne am Rand des Steinfußbodens pinkeln. Im Winter konnte einem vom Urindampf die Brille beschlagen. Heute muss man fürs Pinkeln fünfzig Pfennig bezahlen; es gibt Kabinen statt Rinne. Auch davon aber kein Wort in dem Buch. Der Alex ist noch der aus dem Reiseführer.

In der Rathausstraße ein moderner Fußgängerboulevard mit attraktiven Passagen und Innenhöfen im zweigeschossigen Ladenbereich.

Das stimmt heute wie früher, genauso viel oder wenig. Die Passagen sind so attraktiv, wie Schuh-Leiser, Meyer-Beck und Bundespost nun mal sind. Aber attraktiver waren „Haus der Mode“ und Co. sicher auch nicht, anno 86. Vor den Passagen sitzen Menschen auf Bänken, lesen Zeitung und essen Eis:

Die Freifläche zwischen Fernsehturm, Rathaus, Marienkirche und Spandauer Straße ist ein willkommener Rastplatz im Großstadtgetriebe.

Also weiter, und wieder hinein ins Getriebe. „Auf der ehemaligen Schloßbrücke, heute Karl-Marx-Brücke“ – heute wieder Schloßbrücke – „beginnt die seit alters her berühmte Prachtstraße Unter den Linden“: Staatsoper, Altes Palais, Lindencorso, russische Botschaft – alles, wie Baedeker es uns verspricht. Sogar das Aeroflotbüro ist noch da. Nichts anderes in der Friedrichstraße: Das Kabarett „Die Distel“ spielt ihr 100. Programm, vor dem Friedrichstadtpalast spucken Busse Touristen aus.

Wo also ist sie hin, die größte Baustelle Europas, die Stadt im Wandel, das neue Berlin? Keine Überschrift schien zu groß, um die Veränderung zu beschreiben. Und jetzt, mit dem Baedeker in der Hand, sieht die neue Mitte auf einmal aus wie die alte.

Manchmal noch fast wie im Mittelalter: Neben der Stadtmauer – na klar, der ganz alten natürlich – die „Altberliner Gaststätte Zur letzen Instanz“. Dann wieder so neu wie in den 50ern schon: „Im Stadtbezirk Friedrichshain der erste Abschnitt der Karl-Marx-Allee, als erste repräsentative Straße des neuen Berlin erschaffen.“ Klassisch modern. Wie der Baedeker selbst.

Sicher, einige Namen haben sich geändert: Das Metropol Hotel heißt jetzt Maritim; die HO-Gaststätte „Haus Budapest“ wurde zum Block House, einem Steakrestaurant. Die Funktion hinter den Namen ist aber meist noch die gleiche. Im ehemaligen Ministerium für Elektrotechnik sitzt nun der Minister für Reaktorsicherheit; im alten Haus des Reisens der Deutsche Reisebüro-Verband.

Natürlich, im Kaufhof gibt es jetzt Hefte mit glattem Papier, das Bier kostet 4,50 Mark wie überall, und zwar richtiges Geld – und wenn man heute auf dem Alex „Die Fahne hoch“ singen würde, hätte man schnell einen mittleren Chor beisammen. Und dennoch: Der Reiseführer tut seinen Dienst. Und wenn jemand fragt, was sich verändert hat, dann möchte man sagen: Na, nichts!

Woran das liegt? Vielleicht daran, dass Reiseführer nicht riechen können. Dass sie nichts vom Klang des Verkehrs erzählen, von den Farben der Kleidung, vom Licht der Laternen. Mit dem Baedeker sieht Ostberlin jedenfalls aus wie schon immer. Ein bisschen ist es wie mit der Toilette unter dem Alexanderplatz: Sie stinkt nicht mehr so, dafür kostet’s jetzt Geld. Mehr nicht.

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