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Die Landschaft der Unschuld beraubt

Damals, Anfang der 90er-Jahre, gleich nach der Wende, war es noch ungefährlich, die märkische Landschaft zu besuchen. Heute ist nicht nur ausländisch aussehenden Berlinern die Lust am Flanieren durch idyllisches Umland vergangen

von RAJVINDER SINGH

Landschaften sind nicht anders zu lesen als Bücher. Man nähert sich Augenblick für Augenblick und Schritt für Schritt an. Mit der Geschichte ist es ebenso.Vierzig Jahre nach der ideologischen Teilung Deutschlands, deren immerhin neun abklingende Jahre ich intensiv miterlebt hatte, kam die deutsche Einheit. Damals lebte ich im äußersten Kreuzberg, ziemlich dicht an der Mauer, und erlebte die Teilung wie eine eiternde Wunde tagtäglich mit. Als am 9. November die Schranken an der Mauer hochgingen, jubelte auch ich mit. Mag sein, dass meine Jubelgründe nicht eindeutig einzuordnen waren, bin ich doch gleich danach am 11. November mit der Interflug aus Berlin weggeflogen, nach Malta. Ich dachte, ich habe in diesem deutsch-deutschen Euphorien-Stück sowieso keine Rolle zu spielen, und wollte wahrscheinlich die Bühne ganz den Protagonisten überlassen. An die Antagonisten, die später aus ihren Löchern rauskamen, habe ich damals nicht gedacht.

Ich bin kein Wahrsager, aber ich habe diese Einheit kommen sehen. Als Vorstandsmitglied der Neuen Gesellschaft für Literatur wurde ich von der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten 1988 damit beauftragt, gemeinsam mit zwei Kollegen das deutsch-deutsche Kulturabkommen im Bereich Literatur zu organisieren und durchzuführen. Es folgten zahlreiche Arbeitsbesuche in Ostberlin. Ende April 1989 fand dann im Literarischen Kolloquium Berlin das geplante Treffen statt mit zwölf Ost- und zwölf Westautoren. Dort sagte ich, was ich in der DDR beobachtet hatte: „Diese Mauer kann nicht lange bestehen bleiben.“

Bereits als Kind hatte ich es abgelehnt, mich auf ein geistig oder geografisch begrenztes Gebiet festzulegen. Berlin, die Stadt, in der ich bis jetzt die meisten Jahre verbracht habe, war aber eine Art Insel, und man musste mindestens 200 Kilometer westlich fahren, um irgendwo in der Natur ungehindert spazieren gehen zu können. Nun wurde das Umland Brandenburg auf einmal zugänglich, das die letzten neun Jahre für mich nicht mehr als eine unbekannte geografische Einheit gewesen war. Aber welcher Geist und welcher Gemeinsinn darin florierte, davon hatte ich nun gar keine Ahnung. Ich wollte den lebendigen Menschenstrom, der Woche für Woche, insbesondere an den Wochenenden, nach Berlin drängte, ein wenig näher betrachten. Ich wollte herausfinden, welch ungeheure Kraft den Menschen geholfen hatte, das Eingemauertsein auszuhalten.

Damals, Anfang der Neunzigerjahre, gleich nach der Wende also, war es noch ungefährlich, die von Alexander von Humboldt als „Baltisches Sandmeer“ bezeichnete märkische Landschaft mit einem Besuch zu beehren. Es folgten Wochenendbesuche, und diese liefen wie ein Wochenendritual ab, jedoch nicht ohne Begleiter. Der Deutsche sei kein Flaneur, hatte Jules Laforgue einmal behauptet. Daher gäbe es für diese Aktivität in der deutschen Sprache auch keinen Begriff. Ich fragte einen meiner Freunde, der, wie ich selbst, ein leidenschaftlicher Flaneur war, ob er mich in die neuen Ausflugsgebiete um Berlin begleiten wolle. Er nahm die Einladung an. Die Grundbedingung für Erholung bei den Ausflügen ist, dass sich das Abenteuer und die pittoresken Erfahrungen ungezwungen anbieten. Dies klappte dann auch wunderbar, als wir den schönsten aller Seen Brandenburgs, den Liepnitzsee nördlich von Berlin, besuchten. Umgeben von hügeliger Landschaft und den prachtvollen Buchenwäldern zeigt er sich und seine Ruhe spendende Natur. Wochenende für Wochenende folgten weitere Ausflüge in alle Himmelsrichtungen um Berlin. Auch Strausberg nordöstlich von Berlin war 1991 noch recht ruhig. Selbst ein nicht deutscher Mensch konnte im Café sitzen, ohne angemacht zu werden. Heute wäre dies unvorstellbar.

Der wohl schönste Trip war der Besuch der südöstlich gelegenen Blossiner Heide, nahe Königs Wusterhausen. Wir besuchten dabei die am Dolgensee gelegene Datscha eines Freundes. Der Weg dorthin führte entlang einer malerisch gelegenen Fischräucherei, deren Duft mich noch immer in eine heimwehähnliche Stimmung versetzt. Heute jedoch würde ich, angesichts der Überfälle, nicht nur auf Ausländer, dorthin nicht mehr fahren.

Zwischen 1991 und 1994 haben wir fast die gesamten Ausflugsgebiete um Berlin herum durchforscht. Dann kam es immer häufiger zu rassistischen Überfällen, die uns zur Vorsicht veranlassten. Wie traurig, dass die rechte Gefahr von der Politik jahrelang verharmlost wurde. Selbst die so genannten demokratischen Staatsmänner machen den größten Fehler, wenn sie weiterhin gegenüber ihren Wählern die Neonazi-Tendenzen herunterspielen. Manche von ihnen machen es noch immer.

Mit seiner Laterne suchte einmal Diogenes in der humanen Gesellschaft einen Gleichgültigen. Mit einer Laterne suchen nun Paul Spiegel und der Staatssekretär Heye nach den Engagierten. Aber in einem Land, wo die Intellektuellen längst verlernt haben, Dinge beim Namen zu nennen, kann man da noch was finden?

Dem Flaneur jedenfalls wurde die Unschuld der Ost-Landschaft genommen.

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