: „Gleichheit als neue Utopie“
taz-Serie „Zwischenzeiten“ (letzter Teil): Geld und Erfolg machen alleine nicht glücklich, meint der ostdeutsche Soziologe und Publizist Wolfgang Engler in seiner Bilanz zu zehn Jahren Vereinigung
Interview UWE RADA
taz: Sie haben in Ihrem Buch „Die Ostdeutschen“ eine kritische Bilanz der DDR gezogen. Die Bilanz über zehn Jahre Vereinigung, die Sie am 3. Oktober ziehen wollen, trägt den kämpferischen Titel „Abrechnung“. Ist Ihnen die DDR doch näher als die Bundesrepublik?
Wolfgang Engler: Der Begriff Abrechnung ist eher im doppelten Sinne gemeint. Er kann durchaus buchhalterisch verstanden werden, im Sinne der Inventur. Abrechnung hat aber auch einen polemischen Unterton. Der ist auch gewollt. Es ist nicht nur der Geist des Buchhalters, der am 3. Oktober im Prater herrschen soll.
Wer rechnet am 3. Oktober ab?
Der Ausgangspunkt der Veranstaltung geht auf die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Maueröffnung zurück, den die Westdeutschen, obwohl sie an diesem Ereignis eigentlich wenig Anteil hatten, in der Öffentlichkeit stark vereinnahmt haben. In einem Kneipengespräch haben wir dann die Idee geboren, dass es am 3. Oktober anders werden soll.
Ostdeutsche mehrheitlich unter sich sind noch lange kein Garant der Verständigung. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus für den 3. Oktober?
Der liegt einerseits darin, dass es keine rein ostdeutsche Veranstaltung ist. Wenn ich nur an den Teil denke, den ich verantworte, eine Art Statement- und Recherchemarathon, dann sind da ebenso Westdeutsche eingeladen, wenn sie etwas Interessantes publiziert haben. Das gilt auch für den Event-Teil der Veranstaltung. Die Musik zum Beispiel ist osteuropäisch. Und bei der Literatur und beim Dokumentarfilm laden wir nicht nur Volker Koepp oder Thomas Heise ein, sondern auch Harun Farocki.
Die beiden Oberthemen, unter die Sie den Vortragsmarathon stellen, sind Lebensweise und Ost-West-Differenz. Spielt der Rechtsextremismus in Ihrer Bilanz keine Rolle?
Es ist in den Themen nicht ausdrücklich hervorgehoben, das stimmt. Aber es wird in den Vorträgen eine Rolle spielen, zum Beispiel bei dem Leipziger Jugendfoscher Peter Förster, der die einzige Langzeitstudie zum Thema gemacht hat, über einen Jahrgang, der 1987 13 oder 14 Jahre alt war. Diese Jugendlichen hat er bis ins Jahr 2000 hinein verfolgt. Und denen hat er in den letzten Jahren vor allem auch Fragen zur Anfälligkeit gegenüber Rechtsextremismus, zur Ausländerfeindlichkeit, zu kultureller Vielfalt gestellt. Das wird einer der Schwerpunkte von dem sein, was er darstellen wird. Er wird allerdings, so hoffe ich, auch ein paar Irrtümer berichtigen, die uns in der Debatte so furchtbar zurückgeworfen haben.
Welche sind das?
Die Frage ist ja, ob der Rechtsextremismus im Osten seine Wurzeln in der DDR hat, wie es der Kriminologe Christian Pfeiffer und der Soziologe Thomas Roth vertreten. Oder ob er in den Erfahrungen gründet, die Jugendliche und Heranwachsende in den letzten zehn Jahren gemacht haben. Obwohl man wahrscheinlich gut daran tut, beides ins Kalkül zu ziehen, wird Peter Förster ziemlich genau darlegen, dass Pfeiffer und Roth nicht Recht haben. Es ist nicht die frühe kollektivistische Orientierung im Kindergarten, in der Schule, die Militarisierung des Lebens, die in ihrer Nachwirkung Xenophobie oder Horror gegenüber dem kulturell Vielfältigen verursacht hat. Seine Untersuchung zeigt empirisch ganz genau, dass jene Jugendlichen, die in diese kollektivistischen Formen eingebunden oder die ein besonders bejahendes Verhältnis zur DDR hatten, hernach nicht stärker mit einer ausgepägten Haltung zu Ausländerfeindlichkeit oder Rechtsextremismus hervortreten als die, die nicht in diesen Strukturen waren.
Wenn man sich die Bilder anschaut, die etwa Thomas Heise mit seinem Dokumentarfilm Halle-Neustadt liefert, dann sind wir im Grunde auch bei der Bundesrepublik. Die „Kunde von einem verlorenen Land“, wie Ihr Buch „Die Ostdeutschen“ im Untertitel hieß, müsste doch eigentlich für die alte Bundesrepublik genauso gelten.
Das mit Thomas Heise, den Film zeigen wir auch bei uns, ist vielleicht ein ganz guter Hinweis. Im Grunde ist ein Bericht wie seiner über Halle-Neustadt auch ein Bericht über die Bundesrepublik. Und Thomas Heise hat auch völlig zu Recht gesagt, dass der Film völlig missverstanden wird, wenn er als Film über eine ostdeutsche Regionalkultur oder die Rechtsextremisten unter den ostdeutschen Jugendlichen gesehen wird. Er wollte einen Film über die Bundesrepublik im Jahr 2000 machen und hat sich da nur eine Region ausgesucht, die ihm vertraut ist. Wir hätten gerne auch einen ähnlichen Beitrag aus dem Ruhrgebiet gezeigt, haben aber nichts Entsprechendes finden können.
Detlev Lücke hat in einer Rezension über Ihr Buch geschrieben, Englers Werk ist eine deprimierende Bilanz vertaner Möglichkeiten und nicht verwirklichter Utopien. Sehen Sie heute noch Möglichkeiten und Utopien oder geht es nur noch darum, Schlimmeres zu verhindern?
Ja, das ist wohl so. Jedenfalls ist mein Empfinden so. Auch der Titel „Tag der Abrechnung“ strahlt ja nicht gerade vor utopischer Reizüberflutung. Ich glaube, das entspricht auch dem kollektiven Verständnis derer, die da mitwirken. Was mich selber angeht, so bin ich in der Verlegenheit, gerade einen Text für einen Sammelband schreiben zu sollen, der genau um dieses Thema geht. Der Band nimmt anhand von fünf exemplarischen Gestalten in der DDR, etwa Gerhard Gundermann oder Lothar Kühne, sich vor, diese berühmte Frage zu stellen: Was bleibt? Und je mehr ich mich damit beschäftige, umso verlegener werde ich. Das Einzige, was mich jetzt gerettet hat, war eine Umfrage, die die Junge Welt 1970 unter Jugendlichen, 14- bis 16-Jährigen gemacht hat. Das Thema: „Wie wird mein Leben im Jahr 2000 sein?“. Es sind damals etwa 500 Leserbriefe und Texte eingegangen, und bei der Lektüre habe ich festgestellt, dass ein Irrtum zu berichtigen ist. Die sozialen und technischen Utopien, die das System seinen Bürgern angeboten hat, hätten, aus heutiger Sicht gesehen, gar nicht gegriffen. Wie sich die Jugendlichen im Jahr 2000 gesehen haben, war durch eine doch auch sehr heroische Aufbruchsstimmung geprägt. Doch das ist schon in den Siebziger- und Achtzigerjahren ziemlich versandet. Was daraus für heute folgt, vermag ich positiv kaum zu beantworten, weil die technischen Utopien teils diskreditiert sind, zum Teil sind sie erfüllt. Das Ganze lebte von einem Optimismus, der uns hernach, unter verschiedenen Krisen- und Katastrophenerfahrungen wie etwa Tschernobyl, gründlich abhanden kam. Wenn man überhaupt noch von etwas reden kann, was vielleicht noch nicht erledigt ist und nicht vollständig diskreditiert und in Mitleidenschaft gezogen, dann ist es der Gedanke der Gleichheit.
Gleichheit gilt unter der jungen Generation von heute nicht gerade als cool. Welche anderen Gedanken könnten denn heute die Lücken füllen, die durch die Kampfzonen Karriere, Konsum, Geld, Sex gerissen werden?
Ja, das ist das Problem. Die Jugendbewegung, sobald sie eine Jugendbewegung auf kollektiver Ebene ist, ist schlicht und einfach rechts. Jedenfalls im Osten Deutschlands.
Das ist das Bedürfnis nach Gleichheit von denen, die mit der Polarisierung nicht zurechtkommen.
Es ist oft der Fall gewesen, dass die Gleichheitsutopien von rechts übernommen und damit auch durch die Gedanken des Konformismus, der Gruppe, des „Wir gegen sie“ pervertiert werden.
Wie lässt sich denn Gleichheit in Zeiten der Individualisierung und Konkurrenz überhaupt noch von links besetzen?
Ich fand es ziemlich erstaunlich, als ich vor einiger Zeit ein Buch des amerikanischen Ökonomen Paul Krugmann las. Der ist eigentlich ein gemäßigter Liberaler und hat mit sozialistischen Lenkungsfantasien wenig am Hut. Aber in einem seiner Bücher, wo er die 27 größten Irrtümer der Ökonomie zu berichtigen versucht, fragt er, ob es nicht eigentlich so ist, dass die Menschen in den USA in den 40er-und 50er-Jahren, als das egalitäre Ideal noch viel stärker war als heute, als die Menschen noch enger beieinander lebten und die sozialen Differenzierungen noch nicht so groß waren wie heute, nicht doch zufriedener waren. Ganz im Gegensatz zu einer Gesellschaft, in der im Grunde jeder rastlos auf seinem eigenen Erfolgspfad unterwegs ist.
Das hat die Frage noch nicht beantwortet.
Sie ist schwer zu beantworten. Aber es könnte doch sein, dass nach einer solchen Phase, wie wir sie jetzt erleben, einer starken Differenzierung, immer noch wachsenden Individualisierung, nach der Rückläufigkeit von Dauerhaftigkeit, Stetigkeit, die auch die Hauptprobleme der Menschen im privaten und persönlichen Bereich bestimmen, man das alles satt kriegen kann. Dass man sich, durch eigene schmerzhafte Erfahrungen, davon überzeugen kann, dass das nicht wirklich Spaß macht, so ein Leben. Und da sind wir schon nah an Gleichheitsidealen, die wir uns natürlich unter freiheitlichen Bedingungen wünschen.
Sie sind ein unerbittlicher Verteidiger des Sozialstaats und ein erbitterter Gegner der Amerikanisierung. Steht Deutschland, auch zehn Jahre nach der Vereinigung, im Vergleich etwa mit Großbritannien, aber auch mit Polen, nicht gut da?
Das würde ich doch denken. Ich glaube auch, dass man sehr genau zwischen dem, was manchmal auf der programmatischen Ebene, etwa dem Schröder-Blair-Papier, gefordert wird, und dem, was in der Praxis umgesetzt wird, unterscheiden muss.
Ist das auch Erfolg der Ostdeutschen?
Die fallen ja im Grunde nur mit einem Viertel der Bewohner ins Gewicht. Ihre soziale und ökonomische Macht ist noch viel geringer. Aber sicher scheint mir zu sein, dass der Beitrag der Ostdeutschen zum Sozialstaatsgedanken und dem Gedanken der kollektiven Daseinsfürsorge nicht groß genug geschätzt werden kann. Es bedürfte wahrscheinlich einer längeren Zeit und noch etlicher Generationen, um ihnen ihre Art von Gleichheit, die ja nie unproblematisch war, auszutreiben. Sie sind in gewisser Weise, obwohl sie den Sozialismus der DDR verabscheuen, immer noch Sozialisten.
Wie viele Zehn-Jahres-Schritte wird es noch dauern, bis die Ost-West-Differenz eine von vielen sein wird?
Da wir uns ja auch soziologisch daran gewöhnt haben, in Szenarien zu denken, würde ich das mit zwei Szenarien beantworten. Die erste, für mich durchaus sympathischste Entwicklung wäre die, dass in einer Generation, wenn die ökonomische und soziale Integration der Ostdeutschen vorankommt, das Ostdeutsche ein regionaler Dialekt wird. Es schleift sich nicht ganz ab, es ist immer noch erkennnbar, dass da mal fast ein halbes Jahrhundert lang ein Sonderweg war, der Spuren hinterließ, selbst bei denen, die es nicht erlebt haben. Aber es fehlt der Charakter einer sozialen Konfrontationslinie.
Das zweite, wohl wahrscheinlichere Szenario, besteht in der Tendenz zu einer Verfestigung der Differenz, zu einem nachholenden ostdeutschen Selbstbewusstsein, was in diesen unübersichtlichen Zeiten eine Orientierung gibt, eine Sicherheit vermittelt. Und, da schreibt sich eine Tendenz fort, die man seit der Mitte der 90er-Jahre beobachten kann, die nämlich einer zunehmenden Kampf- und Konfrontationslinie.
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