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Halb durchlässige Raster

Einsilbige Kunst, ironisch zusammenzitiert: Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt, wie sich der New Yorker Pop-Art-Maler Roy Lichtenstein immer wieder mit Spiegeln und Spiegelbildern beschäftigt hat

von GABRIELE HOFFMANN

Seinen Ausstieg aus dem Abstrakten Expressionismus besiegelte er mit „Look Mickey“ und „Popeye“. Das war 1961. Vorausgegangene Versuche, der amerikanischen Lebenswirklichkeit durch das Einnisten von Mickeys und Donalds in die gestische Malerei näher zu kommen, hatten Roy Lichtenstein nicht befriedigt. Nun aber behandelt er Comicfiguren von Kaugummiverpackungen und Illustrationen aus Versandhauskatalogen und Groschenromanen wie Ready-mades: Sie werden vergrößert und möglichst unverändert, also mitsamt der Sprechblasen, in Malerei auf Leinwand übertragen. Ihre Herkunft von industriellen Druckerzeugnissen betont Lichtenstein mit einem Punktraster, das mit einer Schablone sorgfältig aufgetragen wird.

Die Rechnung geht auf: Leo Castelli nimmt den gebürtigen New Yorker Maler (Jahrgang 1923) in sein Galerieprogramm auf, die Zeit finanzieller Sorgen hat ein Ende. Doch für den Künstler Lichtenstein sind die entscheidenden Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit des Bildermalens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Erst als ihm bewusst wird, dass er mit der exakten Widerspiegelung der ihn umgebenden banalen Bilderwelt auf das uralte, von den Avantgarden ad acta gelegte Thema der Nachahmung zurückgreift, kommt ihm die Idee, die Malerei unter den Leitgedanken der „reflection“, im doppelten Wortsinn von Spiegelung und Überlegung, fortzusetzen.

Eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg geht diesem Generalthema unter dem Titel „Roy Lichtenstein: Spiegelbilder 1963 – 1997“ nach. Die wenig mehr als fünfzig Werke umfassende Auswahl aus Malerei und Skulptur stellt den Konzeptualisten Lichtenstein vor, der sich selbst in der Nachfolge von Marcel Duchamp sah und bis zu seinem Tod nicht müde wurde, nach dem Was und Wo der Kunst zu fragen.

In den frühen Sechzigern bedient er sich dabei vorgefundener Comicstrips, die das Leben der amerikanischen Mittelklasse spiegeln. Ganz oben steht die amerikanische Frau, die sich im Fensterrahmen ihres Eigenheims als „World's Fair Girl“ präsentiert: strahlendes Lachen im sorgfältig geschminkten Gesicht, fülliges Haar, manikürte Fingernägel. Das männliche amerikanische Vorzeigeprodukt sitzt im Cockpit eines Bombers und ist nur an seinen Taten zu erkennen. Vorlage für Lichtensteins Triptychon „As I Opened Fire“ (1964) ist eine Szene aus dem Comicheft „American Men of War“. Der traditionellen Landschaftsmalerei mit ihrem Illusionismus verpasst Lichtenstein erstmals 1964 mit dem Einsatz von schimmernder Plastikfolie (Rowlux) einen ironischen Denkzettel. In „Electric Seascape #1“ kommt ein rotierendes Licht hinzu, das die von einer gepunkteten Horizontlinie getrennten Bildhälften, entsprechend Luft und Wasser, mit unterschiedlichen Reflexionsmustern ausstattet.

In der Ausstellung lässt sich gut verfolgen, mit welchen materiellen und optischen Codes Lichtenstein seine vielfältigen Wahrnehmungen strukturiert, um sie vergleichbar zu machen. In der Malerei werden spiegelnde Oberflächen durch ein zwischen Zwei- und Dreidimensionalität changierendes Punktraster bezeichnet. Bei der Serie „Modern Sculpture“ ist es das reflektierende Material verbunden mit Art-déco-Design, das die Objekte in ihrer Funktion auf „Spiegelbilder“ reduziert. Nirgendwo zeigt sich Lichtensteins einsilbige Ironie schöner als in der vordergründigen Hintergründigkeit dieser Skulpturen.

Knapp zehn Jahre verwendet der Pop-Art-Künstler auf die malerische Umsetzung alltäglicher Motive aus gängigem Reproduktionsmaterial. Mit der 1970 beginnenden Gemäldeserie „Mirror“ wird der Spiegel als konkretes Objekt zum Gegenstand der Malerei. Ein schwarzweißes Punktraster teilt durch unterschiedliche Dichte und Schwärze die Spiegelfläche in Licht- und Schattenzonen. Anders als in Velázquez' berühmtem Bild „Las Meninas“ und anderen Beispielen aus der Kunstgeschichte, in denen der Spiegel jeweils durch das, was er spiegelt, Bedeutung schafft, beziehen sich die „Mirrors“ nur auf sich selbst. Indem sie nichts abbilden, stimulieren sie die Reflexion über den Einfluss der verschiedenen Spiegelungsarten auf unsere Wahrnehmung.

Das Gemälde „Mirror Four Panels #1“ von 1971 besteht aus zwei gerahmten Bildflächen mit je zwei vertikalen Streifen. Die einen sind durch ein Punktraster als Spiegel gekennzeichnet, die anderen verweisen als weißer und blauer Streifen auf die amerikanische Hard-Edge-Malerei. Noch unversöhnlicher ist die Opposition, wenn in einem Diptychon gestische Pinselstriche auf scharf konturierte Rasterbahnen und Farbflächen treffen.

Mit der Serie „Reflections“ schafft Lichtenstein in den Achtzigerjahren ein kubistisches Verwirrspiel aus Malerei- und Spiegelzitaten. Im Bild „Reflections on Interior with Girl Drawing“ zitiert er sich selbst mit Innenraumansicht und Picasso-Adaption. Im Gegenzug zu den immer komplexer ineinander greifenden Abstraktionen in den Bildern wagt Lichtenstein 1996 in der Skulptur einen unbeschwerten Rückgriff auf die Anfänge seiner Pop-Art. Und so könnte man sich die Geburt der neuen „Frau mit Spiegel“ vorstellen: er entnimmt seinem „Girl in Mirror“ von 1964 eine einzige Haarwelle, führt den Schwung der Linie fort bis in den Kontur eines Gesichts und übersetzt die Zeichnung in bemalte Bronze.

Bis 21. 1. 2001, Kunstmuseum Wolfsburg. Der Katalog kostet 38 Mark.

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