: Dokumente der Gewalt
Im Rathaus Schöneberg ist derzeit eine ungewöhnliche Ausstellung zu sehen: Röntgenbilder, die Verletzungen durch Gewalttaten zeigen. Es sind verstörende Aufnahmen, die hängen bleiben
von SABINE AM ORDE
Röntgenbilder sind ein ungewöhnliches Medium. Auf den Laien wirken sie zunächst wie abstrakte Gemälde, nur nach und nach kann man entschlüsseln, was auf den Bildern wirklich zu sehen ist. Lässt man sich aber auf die Aufnahmen ein, können sie Geschichten erzählen. Grausame Geschichten. Das gilt zumindest für die Bilder aus dem Archiv des Hamburger Radiologen Hermann Vogel, die derzeit in der Ausstellung „Gewalt im Röntgenbild. Befunde zu Krieg, Folter und Verbrechen“ im Rathaus Schöneberg zu sehen sind.
Ein Foto zeigt Gummi-, Plastik- und Keramikgeschosse, die Röntgenaufnahme dieser Objekte weiße Vierecke, Kreise und Flecken in Form von Patronen. Auf dem Bild darunter ist ein Schädel zu erkennen mit einem weißen Kreis darin und einem etwas größeren, dunklen daneben. „Das Plastikgeschoss hat die Schädeldecke durchschlagen“, sagte Hermann Vogel bei der Ausstellungseröffnung nüchtern. „Das hat der Mann nicht überlebt.“ Dann zeigt der Radiologe auf die nächste Aufnahme: ein Geschoss im Schädel eines Kleinkindes, zu erkennen an den Milchzähnen.
„Nach und nach können sie sich das alles zugänglich machen“, sagt Vogel. „Aber sie können auch jederzeit aussteigen.“ Lässt man sich aber auf die Bilder ein, dann bleiben sie haften – denn im Gegensatz zu den alltäglichen Fernsehbildern, die Gewalt und Elend zeigen, sind die Röntgenaufnahmen ungewohnt.
Vogel sammelt seit 16 Jahren solche Aufnahmen. Als er damals während einer Gastprofessur in Mexiko Tropenkrankheiten erforschen wollte, fielen ihm immer wieder Röntgenbilder in die Hände, die Gewaltanwendungen dokumentierten. Er fotografierte sie und begann, solche Röntgenaufnahmen zusammenzutragen. Inzwischen hat er, ausgerüstet mit Spiegelreflexkamera und Nahobjektiven, über 30 Länder bereist, örtliche Röntgen- und Privatarchive von Ärzten und manchmal auch Gewaltopfer selbst aufgesucht. Mitgebracht hat er Bilder von Giftgasverletzungen aus dem Irak, Lungendurchschüssen aus Tschad, Knochenbrüchen eines misshandelten Kindes aus Deutschland, Aufnahmen aus Ex-Jugoslawien, Zimbabwe. Aus der Sammlung machte Vogel mit neun Doktoranden ein Buch. Die Mediziner haben die Röntgenaufnahmen wissenschaftlich überprüft.
Die Dresdener Gruppe von amnesty international konzipierte eine Ausstellung daraus und ergänzte die Röntgenbilder mit kurzen Berichten über die Menschenrechte in den Ländern, in denen die Fotos entstanden. In den derzeitigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern werden auch Gummigeschosse eingesetzt. Die Ausstellung zeigt, welche Wirkung diese Geschosse haben können.
Die Ausstellung „Gewalt im Röntgenbild“ ist bis zum 10. 10. täglich von 10 bis 18 Uhr im Rathaus Schöneberg zu sehen. Der Eintritt ist frei. Das Buch zum Thema: Hermann Vogel: „Gewalt im Röntgenbild: Befunde zu Krieg, Folter und Verbrechen“. Ecomed Verlagsgesellschaft, Landsberg/Lech 1997, 335 Seiten, 198 Mark
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