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Vergewaltigung zum Mitschneiden

Der Skandal um Kinderpornos im italienischen Staatsfernsehen RAI wächst sich zum Skandal um Seilschaften aus. Ausgespart bleibt, dass unter dem Quotendruck bald alle Nachrichtensendungen zu voyeuristischen Veranstaltungen verkommen sind

aus Rom MICHAEL BRAUN

Es war Fernsehen vom Feinsten, was die Italiener im Lauf der letzten Woche fast Abend für Abend im TG 1, der Nachrichtensendung von RAI 1, geboten bekamen. Am Anfang stand eine Nachricht aus der wirklichen Welt: Die Staatsanwaltschaft der bei Neapel gelegenen Stadt Torre Annunziata hatte einen russisch-italienischen Kinderpornoring dingfest gemacht; elf Haftbefehle und 1.700 Ermittlungsverfahren gegen italienische Kunden waren die Folge.

Der Zuschauer hat ein Recht auf umfassende Information, sagte man sich wohl in der RAI, und er hat auch ein Recht darauf, ordentlich aufgerüttelt zu werden. Gesagt, getan: Um 20 Uhr flimmerten im TG 1 reichlich Fotos und Videos von missbrauchten Kindern über den Schirm, den Familien zur Warnung, den Pädos zum kostenfreien Mitschneiden. Betroffen blickte der Moderator drein, betroffen auch schaute der erst seit 100 Tagen amtierende Chefredakteur Gad Lerner in die Kamera, als er noch in der gleichen Sendung zur Entschuldigung anhob: Unverzeihlich sei es gewesen, dieses Material zu zeigen. Unter seiner Ägide werde das nie wieder vorkommen. Fernsehen zum Anfassen eben. Und Fernsehen auch, das es schafft, mit einem selbst geschaffenen Medienskandal den wirklichen Skandal – den einträglichen Handel mit Bildern vergewaltigter und gefolterter Kinder – zu verdrängen.

Komplizen für diese Übung fanden sich sofort in den Reihen der Oppositionspolitiker. Anderntags kam es im Parlament zu Tumulten: Weg müsse Lerner, weg auch der Nachrichtenchef von RAI 3 (wo die Bilder ebenfalls gelaufen waren), ja gleich die ganze regierungshörige RAI-Spitze, forderten Forza Italia und Alleanza Nazionale; Duce-Enkelin Alessandra Mussolini machte die Verantwortlichen noch eine Etage höher aus: „Die Repräsentanten der Pädophilie sitzen in dieser Regierung.“

Der eigentliche TV-Skandal kam natürlich nicht zur Sprache: die Tatsache, dass im Quotenwettbewerb die Nachrichtensendungen aller Programme zu voyeuristischen Veranstaltungen verkommen sind. Das italienische Fernsehen ist immer ganz hart dran, es bittet mit wahrem Genuss schluchzende Mütter oder Witwen von Mordopfern zum Interview oder überträgt Bilder von frisch geborenen Achtlingen direkt aus dem Brutkasten – und immer hat der Moderator Tremolo in der Stimme.

Hart dran war die RAI auch bei den Pädo-Szenen – eigentlich journalistischer Alltag im Staatsfernsehen. Doch darum ging es der Rechten nicht. Die RAI aufmischen, gerade jetzt, sieben Monate vor den Parlamentswahlen, dies war die unverhoffte Chance, die das Berlusconi-Lager sofort ergriff. Und Gad Lerner ließ sich nicht lange bitten und legte sein Mandat in die Hände des Senderverwaltungsrats. Dass es im Medienskandal allein um politische Fronten ging, zeigte dessen Votum: Die drei regierungsnahen Vertreter sprachen den Chefredakteuren ihr Vertrauen aus, die beiden Oppositionsvertreter verließen unter Protest die Sitzung. Eigentlich hätte die Angelegenheit damit beendet sein können, doch nun wollte Lerner nicht mehr. Nach vier Tagen Bedenkzeit warf er das Handtuch – und inszenierte seinen Ab- wiederum als wirkungsvollen Fernsehauftritt. Nein, nicht wegen der schmutzigen Bilder gehe er, ließ er die TG-1-Zuschauer wissen, sondern wegen der unerträglichen politischen Pressionen.

Einen Bösewicht nannte er beim Namen: Mario Landolfi, Abgeordneter der Alleanza Nazionale und Vorsitzender des Parlamentsausschusses, dem die Kontrolle der RAI obliegt. Als Medienethiker spiele Landolfi sich auf, dabei habe er selbst Dreck am Stecken. Bei einem Mittagessen im Juli habe er Lerner einen befreundeten Journalisten ans Herz gelegt – ob das wohl mit dem Wächteramt vereinbar sei? Damit war der Skandal auf der dritten Ebene. Und diesmal übernahm die Mitte-links-Koalition den Part der Rechten, forderte Landolfis Rücktritt und heuchelte Betroffenheit über eine Praxis, die in der RAI bis heute gang und gäbe ist: Ohne politischen Patron ist im Staatsfernsehen noch kaum ein Journalist etwas geworden. Landolfi ließ es sich natürlich nicht nehmen, seinerseits ausführlich auf dem TG 1 seine Sicht der Dinge darzustellen: Kein Wort sei wahr an Lerners Version, und abtreten werde er natürlich nicht.

Lerner und Landolfi werden sich wohl vor Gericht wieder treffen. Derweil geht es bei der RAI weiter wie gehabt. Die streng nach politischer Patronage sortierten Redaktionen werden ihre als „Pflicht zur Nachricht“ getarnten Crime- und Sex-Geschichten liefern, und der neue Chef des TG 1 steht seit Dienstag auch schon fest. Während im RAI-Kontrollausschuss noch verbal die Fetzen flogen, war im All-Parteien-Konsens die Lösung schnell gefunden.

Albino Longhi heißt der Mann, und dank seiner jungen 71 Jahre gibt er einen hervorragenden Übergangskandidaten – bis sich bei den nächsten Parlamentswahlen entscheidet, welche Koalition ihre Hände auf das staatliche Schmuddelfernsehen legen darf.

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